Notiert inBerlin

Musterschüler-Illusion

Deutschland versteht sich als Musterschüler bei den europäischen Schuldenregeln. Das ist eine Illusion. Zu Hause benehmen sich Bund und Länder keineswegs als Musterschüler.

Musterschüler-Illusion

Notiert in Berlin

Musterschüler-Illusion

Von Angela Wefers

Kurz vor Weihnachten haben sich die EU-Finanzminister auf neue Schuldenregeln im europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt geeinigt. Wäre es nach den Deutschen gegangen, würde Europa strikter überwacht. Zu lange Übergangsfristen beim Schuldenabbau, zu viel Schuldenfinanzierung von Investitionen und ein zu weitreichender Spielraum für die EU-Kommission als Hüterin des Pakts – dies sind nur einige Kritikpunkte, die hierzulande laut wurden. Die Deutschen als Musterschüler hätten klare Vorgaben und automatische Sanktionen für Schuldensünder in Europa durchgesetzt, wenn sie nur gekonnt hätten. Aber leider verlangt die europäische Willensbildung ja auch Kompromisse.

Die vermeintlichen Musterschüler Europas hätten zu Hause eigentlich jede Gelegenheit, es besser zu machen. Aber erst das Bundesverfassungsgericht musste den rechten Weg weisen und an die nationalen Schuldenregeln erinnern. Die Schuldenbremse war eben nicht so gedacht, dass Ausnahmekredite für Ausnahmejahre noch fröhlich in Normaljahren eingesetzt werden dürfen, weil es politisch einfacher ist, Wünsch-Dir-was-Listen nicht am Geld scheitern zu lassen. Der Richterspruch hat die Ampel in eine Krise gestürzt. Die zähe Revision der Etatplanung 2024 hat indessen nicht zu mehr Disziplin geführt, sondern zu mehr Kreativität. Der Süden Europas lässt grüßen. Eine kleine Aussetzung der Schuldenbremse ist schon 2024 für die Flutkatastrophe aus 2021 annonciert. Auch der Krieg Russlands in der Ukraine könnte dazu führen, wenn im Jahresverlauf noch mehr finanzieller Einsatz erforderlich wird. Zum Griff in die Trickkiste gehört es auch, Sozialkassen zu plündern – etwa bei der Arbeitsagentur.

Erster Reflex auf das Urteil waren nicht etwa Überlegungen, wie die Schuldenbremse eingehalten werden kann, sondern dass sie ausgesetzt werden muss. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hat dies gerade bekräftigt. Die mildere Variante verlangte nun Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) mit einer Föderalismusreformkommission III zur Lockerung der Schuldenbremse. Aber die Unzulänglichkeiten reichen weiter: Die institutionelle Kontrolle zur Einhaltung der Schuldenbremse und der europäischen Grenzwerte versagt. Ohnehin hinkt das Konstrukt, dass Bund und Länder das gesamtstaatliche Defizit im Stabilitätsrat selbst überwachen. Der Rat tagt zweimal jährlich, im Mai/Juni und im Dezember, in diesem Jahr am 18. Dezember. Auf eine Pressekonferenz wurde verzichtet, denn dann wäre offensichtlich gewesen, dass eine Feststellung zu den Schuldenregeln schlicht ausblieb. Weil der Bund keine aktuelle Haushaltsplanung hat, sei eine zeitnahe Überprüfung der Einhaltung der europäischen Defizitobergrenzen nicht möglich, hieß es lapidar in einer Pressemitteilung.

Den Stabilitätsrat treibt aber offensichtlich auch keine besondere Eile. Seine nächste Sitzung will er wegen der „notwendigen Vorläufe“ erst zum regulären Termin im Frühjahr stattfinden lassen. Im April muss das Stabilitätsprogramm nach Brüssel übermittelt werden. Dem Stabilitätsrat ist ein wissenschaftlicher Beirat an die Seite gestellt, der ihn mit unabhängiger Expertise kontrollieren soll. Seit Jahren legt dieser Beirat – oft unbemerkt – den Finger in die Wunde, wo es bei der Defizitüberwachung hakt. Diesmal verzichtete er ganz auf eine Stellungnahme.

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