Schanghai

Neulich in China, Texas

Mit Stetson-Hüten, Westernstiefeln, T-Bone-Steaks und sonstiger Cowboy-Symbolik haben Chinesen denkbar wenig am Hut. Just zum gerade absolvierten chinesischen Neujahrsfest und dem damit frisch begonnenen Jahr des Rindes sieht das plötzlich anders...

Neulich in China, Texas

Mit Stetson-Hüten, Westernstiefeln, T-Bone-Steaks und sonstiger Cowboy-Symbolik haben Chinesen denkbar wenig am Hut. Just zum gerade absolvierten chinesischen Neujahrsfest und dem damit frisch begonnenen Jahr des Rindes sieht das plötzlich anders aus.

Schuld daran ist Texas. Wenn dort die Lichter ausgehen und das Leitungswasser versiegt, hellen sich die Mienen der Nachrichtenkonsumenten auf, und es sprudelt geradezu an genüsslichen Kommentierungen in staatlichen und sozialen Medien.

Die von einem historischen Kälteeinbruch hervorgerufene Versorgungspanne im Bundesstaat Texas mit massenhaften Stromausfällen und Wasserschäden hat das chinesische Publikum elektrisiert und die Medienkanäle lubrifiziert. Die Texas-News sind in die ansonsten nachrichtenarme chinesische Feiertagswoche zum Mondkalender-Neujahrsfest gefallen und damit besonders begierig aufgesogen worden.

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Erfreuen sich Chinesen etwa grundsätzlich am Leid anderer Menschen, sofern sich diese in einem rivalisierenden Land aufhalten? Nein, das sicherlich nicht, aber ein bisserl Schadenfreude geht immer. Und wer will sich schon dauernd auf die Zunge beißen, wenn sich goldene Gelegenheiten für geopolitische Seitenhiebe ergeben? Das gilt besonders für die auch sonst nicht auf den Mund gefallene Sprecherin des Pekinger Außenministeriums, Hua Chunying.

Sie hat es in einem einzigartigen dialektischen Kunstgriff fertiggebracht, das Reizthema vermuteter Menschenrechtsverletzungen in der Provinz Xinjiang – in gewisser Weise Chinas Wilder Westen – mit den Infrastrukturdefiziten im Cowboy-Territorium Texas zu verbinden. Am Ende der eloquenten Beweisführung landet man bei der unwiderstehlichen Botschaft, dass wieder einmal nur die Kommunistische Partei Chinas auf dem Pfad der Rechtschaffenheit und Tugend wandelt. In einem der regelmäßigen Pressebriefings des Ministeriums wurde Hua mit der Frage konfrontiert, wie Peking auf das Ansinnen westlicher Länder nach einer förmlichen Untersuchung zu menschenrechtlichen Missständen im Umgang mit der muslimischen Bevölkerung in Xinjiang reagiert.

Solche Fragen abzuschmettern gehört zum Pflichtprogramm von Chinas Regierungssprechern, aber Hua hat noch eine regelrechte Kür draufgesetzt. Zunächst einmal wurde mit ihrer weitschweifigen Antwort geradegerückt, dass es – „Erziehungslager“ hin oder her – keinerlei Menschenrechtsverletzungen und sonstige Unterdrückungshandlungen gegenüber den Muslimen in Xinjiang gibt. Im gleichen Atemzug wurde darauf verwiesen, dass die USA, Kanada und Australien und damit jene drei Länder, mit denen China nicht nur in Diskriminierungsfragen, sondern auch handelspolitisch besonders auf Kriegsfuß steht, in ihrer Geschichte als Menschenrechts-Missetäter gegenüber ethnischen Minderheiten aufgefallen sind.

Dann der gekonnte Schwenk nach Texas: Dort sind die Menschen in eine vom (Bundes-)Staat zu verantwortende Existenzkrise geraten, hatten keine Elektrizität und Heizung in ihren Wohnungen, mussten um Trinkwasser betteln, ein paar Dutzend sind gar ums Leben gekommen. Zeitgleich hat sich Chinas Milliardenvolk zum friedlich-familiären Neujahrs-Get-together vereint und durfte wohlgenährt und reibungslos mit Kraftwerksfernwärme versorgt in festlichem Lichterglanz schwelgen.

Was lehrt uns das nach Lesart der chinesischen Regierungssprecherin? Dass das „wahre fundamentale Menschenrecht“ darin besteht, nicht hungrig zu sein und nicht frieren zu müssen. Der Kontrast zu den chaotischen Zuständen im Herzen der USA habe der chinesischen Bevölkerung deutlich gemacht, wie dankbar sie sein könne, dass der Staat ihre fundamentalen Menschenrechte pflege. Das habe ihr Vertrauen darin gestärkt, dass sich China auf dem richtigen Weg befinde. Quod erat demonstrandum. Ganz China ist also fein heraus. Wirklich ganz China? Nein, ein kleines Dorf hält dagegen. Im texanischen Jefferson County, an der Grenze zu Louisiana, gibt es ein Örtchen mit gut 1000 Einwohnern, das mit im Schlamassel steckt. Und das heißt tatsächlich China, Texas.