Notiert inNew York

Reisewahn zu Thanksgiving

Das Verkehrsaufkommen in den Vereinigten Staaten dürfte rund um Thanksgiving deutlich stärker anziehen als in den Vorjahren. Hintergrund ist der Abwärtstrend an den Rohstoffmärkten.

Reisewahn zu Thanksgiving

Notiert in New York

Reisewahn zu Thanksgiving

Von Alex Wehnert

Vielen Amerikanern gehen im laufenden Jahr offenbar die Ausreden aus, um sich zu Thanksgiving vor einem Besuch bei den Schwiegereltern zu drücken. Trotz Warnungen vor Stürmen, Starkregen, Schnee und Eisesglätte in weiten Teilen der USA zeichnet sich rund um das Erntedankfest am Donnerstag die geschäftigste Reiseaktivität seit fast zwei Jahrzehnten ab. Zwischen Mittwoch und Sonntag dürften sich in den Vereinigten Staaten laut dem Verkehrsclub American Automobile Association (AAA) 49,1 Millionen Menschen hinters Lenkrad oder auf die Beifahrer- und Rücksitze klemmen, das wären 1,7% mehr als im von der Erholung von der Corona-Pandemie geprägten Vorjahr.

Der diesjährige Reisewahn ist unter anderem Folge eines Abwärtstrends an den Rohstoffmärkten. Die Ölproduktion in den Vereinigten Staaten verharrte zuletzt in Rekordhöhen, laut der Energieinformationsbehörde EIA erreichte der Output Anfang November 13,2 Mill. Barrel pro Tag. Zugleich halten sich Sorgen über eine konjunkturelle Abkühlung und damit einhergehende Belastungen für die Rohölnachfrage. Die Marktdynamik beeinflusst dabei auch den Benzinpreis, der im nationalen Durchschnitt seit einem zwischenzeitlichen Hoch von 3,87 Dollar pro Gallone im laufenden Jahr stetig gefallen ist und zuletzt noch bei 3,27 Dollar lag.

Aber auch die Tickets bei den US-Airlines sind zuletzt wieder deutlich günstiger geworden. Die AAA rechnet damit, dass in den USA in den kommenden Tagen 4,7 Millionen Menschen ins Flugzeug steigen werden. Das bedeutet nicht nur einen Anstieg von 6,6% gegenüber dem Vergleichszeitraum aus dem Vorjahr, sondern auch den höchsten Wert seit dem Jahr 2005.

Die US-Verkehrssicherheitsbehörde TSA geht davon aus, dass zwischen Freitag und Dienstag noch deutlich mehr Amerikaner in luftige Höhen streben werden, und die Flughäfen in der Metropolregion New York stellen sich auf heftigen Andrang ein und verweisen dabei auf den Remote-Working-Trend, der für flexiblere Reisepläne sorge. Selbst in den Überland-Personenzügen, diesen unamerikanischsten aller Reisevehikel, dürfte es nach Angaben der Verkehrsgesellschaft Amtrak beträchtlich voller werden als in den Vorjahren.

Während viele New Yorker nun also auf gepackten Koffern sitzen oder bereits in Richtung Connecticut oder New Jersey aufgebrochen sind, werden sich bis zu 3 Millionen Einwohner und Besucher der Empire City am Donnerstag durch den kalten Wind zur Westseite des Central Park vorkämpfen. Denn dort lädt der Kaufhausbetreiber Macy's zur 97. Auflage seiner traditionellen Thanksgiving-Day-Parade, die sich entlang einer 2,5 Meilen langen Route von der 77. Straße bis zur Flaggschifffiliale des Einzelhändlers am Herald Square schlängeln wird.

Neben Marschorchestern sollen dieses Jahr unter anderem auch Jazzmusiker Jon Batiste und Pop-Ikone Cher Festtagsstimmung verbreiten. Bereits ab 6 Uhr morgens dürften Fans entlang der Route eintreffen, um weder die Künstler noch die riesigen Ballons zu verpassen, die trotz der schwierigen Wetterbedingungen aufsteigen sollen. Besonders beeindruckend: Ein luftgefülltes Abbild der Zeichentrick-Figur Spongebob Schwammkopf und ihrer Hausschnecke Gary, die gemeinsam über 400 Kilo auf die Waage bringen.

Ähnlich aufgebläht dürften sich viele Amerikaner auch nach dem traditionellen Thanksgiving-Festessen bei der Verwandtschaft fühlen. Unterdessen dürfte der ein oder andere findige Schwiegersohn oder die eine oder andere clevere Schwiegertochter das hohe Reiseaufkommen aber noch als Ausrede zu nutzen suchen, um die ungeliebten Eltern der Partnerin oder des Partners doch erst frühestens zu Weihnachten wiedersehen zu müssen.

Wer aber auch bei Verweis auf volle Straßen und Flughäfen kein Erbarmen findet und sich auf den Weg machen muss, dem bleibt immerhin noch ein Strohhalm. Schließlich machen es die niedrigeren Spritpreise im Zweifel auch günstiger, mit Karacho die Flucht vor den Schwiegereltern zu ergreifen.

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