LeitartikelKapitalanlage

Risiken in neuer Dimension

Am Aktienmarkt haben Unternehmen wie Bayer, FMC und Siemens Energy in diesem Jahr erlebt, wie schnell sich Milliarden in Luft auflösen. Diese Fluchtbewegungen spiegeln auch ein verändertes Risikoprofil wider, mit dem sich Investoren konfrontiert sehen.

Risiken in neuer Dimension

Risiken in neuer Dimension

Von Detlef Fechtner

In den Neunziger Jahren gab es in Nachrichtenagenturen Leitfäden für die Berichterstattung über Aktienkursbewegungen. Ein Minus von 0,2% entsprach der Kategorie „knapp behauptet“, ein Abschlag von 1% wurde in „leichter“ oder „schwächer“ übersetzt. Bei Kurseinbußen von mehr als 4% wurden Begriffe wie „Kurseinbruch“ oder „Ausverkauf“ empfohlen. Das damalige Handbuch funktioniert heute nicht mehr. Denn wenn ein Kurs bereits bei minus 4% „tief in den Keller rasselt“, wie soll man dann einen Tagesverlust um 10% oder gar um 25% bezeichnen. Als „historisch beispiellosen Absturz“? Nein, denn so beispiellos und historisch sind zweistellige Kurseinbußen einzelner Titel längst nicht mehr.

Mitte November gab die Aktie von Bayer an nur einem Handelstag mehr als 18% nach, nachdem sich ein wichtiger Hoffnungsträger in der Medikamenten-Pipeline als weniger wirksam als die Vergleichsarznei erwiesen hatte. Ebenfalls um 18% abwärts ging es Anfang Oktober binnen eines Handelstags für Fresenius Medical Care. Auch hier war eine Pharmastudie ausschlaggebend, allerdings in diesem Falle das positive Zwischenresultat für das Medikament des Wettbewerbers Novo Nordisk. Die Aktie des Biotech-Unternehmen Morphosys sackte sogar um 21%, weil die Anleger darüber enttäuscht waren, dass eine Arznei in einer Studie bei einem Nebenziel keinen statistisch signifikanten Nutzen erkennen ließ. Kurioserweise sprang sie, nachdem Details bekannt wurden, drei Wochen später wieder 34% nach oben.

Gravierende Tagesverluste

Man könnte annehmen, dass nur Pharmafirmen gravierende Tagesverluste erleiden. Aber dem es nicht so. 37% des Börsenwerts binnen weniger Stunden kostete Siemens Energy im Juni das Eingeständnis von Qualitätsproblemen bei der Windkraft-Tochter Gamesa. Und im November knickte die Aktie des Getränkeriesen Diageo um 13% ein, nur weil der Johnnie-Walker-Konzern zuvor ein Umsatzminus für sein Geschäft in Lateinamerika angekündigt hatte, übrigens einem Randmarkt von Diageo.

Die Beispiele zwingen zum Schluss, dass das Anlageverhalten an den Aktienmärkten derzeit durchaus von Nervosität geprägt ist – und vom Verhaltensmuster, aus Einzeltiteln rasend schnell Reißaus zu nehmen, sofern der Verdacht aufkommt, etwas läuft unrund. Ein Grund dafür, dass viele Portfolien heute nach dem Prinzip „Spitz pass auf“ gesteuert werden - einem Spiel,bei dem man die eigene Figur blitzschnell zurückzieht, - dürfte das veränderte Risikoprofil sein. Denn in Zeiten großer Unsicherheit ist der Reflex, sich schnell aus Engagements zurückzuziehen, bei denen sich schwer einschätzbare Risiken auftun, noch ausgeprägter.

Eine Fülle von Unsicherheitsfaktoren

Und an Unsicherheiten herrscht aktuell kein Mangel. Längst müssen Investoren nicht nur auf konjunkturelle oder mit dem spezifischen Geschäftsmodell eines Unternehmens verbundene Risiken achten. Vielmehr müssen sie viel stärker als früher geopolitische Risiken berücksichtigen – etwa absehbare Auswirkungen im Falle einer Eskalation zwischen China und Taiwan auf Erlöse und Erträge der Unternehmen, in die ihre Häuser investiert sind. Daneben spielen reputative Risiken - von lückenhaftem Umweltschutz bis zu kritischen sozialen Bedingungen - eine wesentlich größere Rolle. Zudem haben operative Risiken eine neue Dimension erreicht, seit Cyberattacken Betriebsabläufe tagelang lahmlegen können. Und nicht zuletzt steht über allem die Frage, ob es den Unternehmen im Portfolio gelingt, den Schadstoffausstoß messbar und stetig zu reduzieren, um kein „stranded asset“ zu werden.

Resiliente Geschäftsmodelle

Bislang haben sich die Geschäftsmodelle der meisten Unternehmen als erstaunlich resilient erwiesen – trotz Kriegen, Pandemie, Energiepreisschock und jäher Zinswende. Akienanleger rund um den Erdball können in wenigen Tagen einen erfreulichen Börsenjahrgang feiern. Insofern wäre es 2023 natürlich ein großer Fehler gewesen, sich aus dem Aktienmarkt zurückzuziehen. Aber: Kapitalanleger sehen sich heute Risiken neuer Dimension gegenüber, die erstens erheblich sind und zweitens ausgesprochen kurzfristig eintreten können, quasi von jetzt auf nun. Deshalb ist damit zu rechnen, dass auch 2024 immer wieder extreme Fluchtbewegungen aus einzelnen Titeln zu beobachten sein werden.

Kapitaleinlage

In Zeiten großer Unsicherheit ist der Reflex zum Rückzug aus Engagements, bei denen nicht alles rund läuft, ausgeprägt.

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