Russische Katz-und-Maus-Spiele
Russische Katz-und-Maus-Spiele
Man redet in der russischen Öffentlichkeit allmählich doch auch über den Krieg, auch wenn man ihn vorsichtshalber nicht immer so bezeichnet. Von einer diesbezüglichen Unterhaltung zweier Frauen in der Vorstadtbahn etwa 150 Kilometer außerhalb von Moskau erzählte kürzlich eine Bekannte, die öfter mit diesem Verkehrsmittel unterwegs ist. Es hänge ihr schon zum Hals raus, dass man immerzu zum Spenden angehalten werde, sagte die eine der beiden Frauen: Ständig werde in den öffentlichen Einrichtungen, wo sie als Reinigungskraft arbeite, für die Kriegsteilnehmer und -opfer gesammelt. „Ich gebe von nun an nichts mehr.“
Ihr Gegenüber wiederum sieht im Krieg eine gewisse Lösung ihrer chronischen Probleme, weshalb sie ihren Mann auch gedrängt habe, sich freiwillig für den Einsatz zu melden. Schon in den ersten drei Monaten seines Einsatzes habe er, sprich sie 600.000 Rubel (knapp 6.300 Euro) überwiesen bekommen und damit endlich einmal die überfällige Renovierung der Wohnung beginnen können. Und ehrlich gesagt, sagte sie, sei sie auch froh, dass der Mann einmal weg sei, denn er habe ohnehin nur gesoffen und kein Geld nach Hause gebracht.
Dass übrigens der Krieg zu weniger Alkoholkonsum geführt habe, wie dies manche Beobachter insinuieren, lässt sich so nicht konstatieren. Faktum ist, dass im vergangenen Jahr die Wodkaproduktion offiziellen Statistikdaten zufolge zurückgegangen ist – und zwar um fast 6%. Dem steht freilich gegenüber, dass wieder mehr Fusel produziert und konsumiert wird. Und zwar ganz einfach, weil er billiger ist. Damit setzt sich eine Tendenz fort, die 2012/2013 begonnen hat und eine Begleiterscheinung der Stagnation ist, in der sich das Land seither befindet. Zuvor war der Fuselkonsum rückläufig gewesen und im Jahr 2012 auf ein postsowjetisches Minimum gefallen.
Abseits dieser Statistik ist freilich zu konstatieren, dass in den vergangenen beiden Jahren des Ukraine-Krieges vor allem viele russische Provinzen wirtschaftlich einen Schub erfahren haben, weil die Soldaten gerade dort rekrutiert wurden und deren Löhne und diverse Kompensationszahlungen um ein Vielfaches höher sind als der sonst in diesen Gegenden mögliche Verdienst. Viel Geld fließt in den Kauf und die Renovierung von Immobilien, zumal der Staat insbesondere Hypothekarkredite subventioniert. Ein Teil landet auch in Spareinlagen.
Und diese hat nun auch Finanzminister Anton Siluanow für sich entdeckt. Wie er Ende Dezember erklärte, möchte er die geschätzt 40 Billionen Rubel, die als private Spareinlagen bei Banken herumliegen, für Investitionen in die Wirtschaft heben – und zwar über den Umweg von privaten Pensionsfonds, die dann, das sagte Siluanow nicht, wohl verpflichtet werden, Staatsobligationen zu kaufen. Der Staat gibt es, der Staat nimmt es auch wieder, könnte man sagen.
Aber auch die Bevölkerung des Landes ist bei diesem Katz-und-Maus-Spiel durchaus kreativ und stellenweise sehr aktiv, um sich vom Staat möglichst viel Geld zu holen. Am augenscheinlichsten wurde dies etwa zuletzt bei der im vergangenen Jahr vereinheitlichten Beihilfe für Familien mit Kindern. Um in den vollen Genuss der Beihilfe zu kommen, haben die Familien nach Wegen gesucht, ein möglichst niedriges Familieneinkommen zu fingieren – und haben dafür fiktive Scheidungen als Modell entdeckt.
Dieses hat sich vor allem in den ärmeren und strukturschwachen Republiken des muslimisch geprägten Kaukasus breitgemacht – kurioserweise genau dort, wo die traditionelle Familie einen ungleich höheren Status hat als im Rest des Landes. Während schon im Jahr 2022 landesweit die Scheidungen um 4,6% stiegen, schnellten sie im Verwaltungskreis Nordkaukasus um 24,1% hoch. In Tschetschenien waren es sogar um 64,4% mehr, in Dagestan 21,8%. Die Tendenz setzte sich 2023 fort. Der Staat ist bereits aktiv geworden und justiert bei den Bezugsregeln nach. Das Katz-und-Maus-Spiel geht weiter.