Notiert inBerlin

Schlange stehen fast wie in der DDR

Schlange stehen in Berlin? Das hat Tradition, ist aber nach der Pandemie wohl noch präsenter geworden. Es gibt mittlerweile Schlangen, die schon als legendär gelten.

Schlange stehen fast wie in der DDR

Notiert in Berlin

Fast wie in der DDR

Von Andreas Heitker

Das Phänomen ist nicht neu, ist nach der Pandemie aber wohl noch präsenter geworden: Egal in welchem Stadtteil oder zu welcher Uhrzeit – in Berlin fallen immer wieder Menschenansammlungen auf, die irgendwo Schlange stehen. Ältere Semester mögen da manchmal an die Zeiten der Mangelwirtschaft in der untergegangenen DDR erinnert sein. Dies dürfte aber wohl nur der Fall sein, wenn wieder einmal eine öffentliche Besichtigung einer bezahlbaren Wohnung in der Stadt stattfindet. Ansonsten haben die Schlangen wenig mit Mangelwirtschaft, sondern eher mit neuen Hypes oder "Geheimtipps" zu tun, die in sozialen Netzwerken oder populären Reiseführern verbreitet werden. Und natürlich auch mit den Berlinern selbst: Gemeinsames Anstehen sei in der Hauptstadt "fast schon ein eigenes Unterhaltungsformat", hieß es vor einiger Zeit einmal im Stadtmagazin "Tip". In Internet-Blogs ist so auch schon mal von der "City of Snakes" die Rede, was bestimmt nichts mit der gemeinen Ringelnatter zu tun hat, die in den Feuchtgebieten der Stadt und im Umland schon mal zu sehen sein soll.

Sonntagvormittag eine Schlange in Mitte rund um den Rosenthaler Platz? Das kann nur dieser kleine Croissant-Laden sein, dessen Produkte beim Frühstück nun wirklich nicht fehlen dürfen. Schlangen von Teenagern zu jeder Tageszeit in Kreuzberg oder Neukölln? Ein heißer Tipp wäre, dass in der Nähe ein Fotoautomat steht, der echte analoge Schwarz-Weiß-Bilder produziert. Eine 100 Meter lange Schlange (24/7) an der U-Bahn-Haltestelle Mehringdamm? Das kann nur "Mustafa's Gemüse Kebab" sein, den nach einigen Erwähnungen im "Lonely Planet" nun wirklich kein Tourist mehr auslässt. Schlange am Parkhaus am Rathaus Neukölln am Abend? Da muss der "Klunkerkranich" in der Nähe sein, ein cooles Lokal mit Aussicht ("Kulturdachgarten"). 8 Euro Eintritt? Dafür wartet der Hipster gerne mal ein halbe Stunde.

Die Liste ließe sich beliebig fortführen. In den sozialen Medien waren zuletzt Videos mit Schlangen zum Start des 49-Euro-Tickets am Alexanderplatz zu sehen. Der "Tagesspiegel" berichtete vom Graefekiez, wo man länger anstehen muss wegen eines besonderen Hamburgers ("Hypeburger"), der dort angeboten wird. Diese Menschenaufläufe werden sicherlich schnell wieder vergessen sein – im Gegensatz zu den fast schon legendären Berliner Schlangen. Dazu gehört natürlich die vor dem berüchtigten "Berghain"-Club, in der auch stundenlanges Warten keinerlei Garantie beinhaltet, dann auch tatsächlich vom Türsteher eingelassen zu werden. Dazu gehört natürlich die Schlange an der Bornholmer Straße am 9. November 1989 beim Fall der Mauer und im Anschluss an die sich daran anschließenden weiteren Ereignisse die Schlangen am 1. Juli 1990 bei der Ausgabe der D-Mark in Ostberlin.

Zu den legendären Berliner Schlangen zählt zumindest die "Tip"-Redaktion auch schon die Erscheinungen vom 26. September 2021. Man erinnere sich: Am Tag der Bundestagswahl, an dem in Berlin ja zusätzlich noch das Abgeordnetenhaus und die Bezirksversammlungen neu gewählt und über die Enteignung der Wohnungsunternehmen abgestimmt wurde und zugleich auch noch der jährliche Stadt-Marathon stattfand, ging ja in vielen Wahllokalen der Stadt irgendwann gar nichts mehr. Das Bundesverfassungsgericht verhandelt immer noch um Wahlwiederholungen.

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