LEITARTIKEL

Schönfärberei

Starrsinnig - das beschreibt die Haltung des Nestlé-Managements zu seinem Wachstumsziel. Daran hat auch der Wechsel an der Spitze des weltgrößten Lebensmittelkonzerns Anfang 2017 nicht viel geändert. Immer noch glaubt sich Vevey in Zeiten, in denen...

Schönfärberei

Starrsinnig – das beschreibt die Haltung des Nestlé-Managements zu seinem Wachstumsziel. Daran hat auch der Wechsel an der Spitze des weltgrößten Lebensmittelkonzerns Anfang 2017 nicht viel geändert. Immer noch glaubt sich Vevey in Zeiten, in denen die Emerging Markets unfassbar stark wuchsen und so auch der Konsumgüterindustrie gewaltige Umsatzschübe bescherten. Zudem halten die Schweizer ein Phänomen wie das Portionskaffeesystem Nespresso, das zwar langsam aus den Startlöchern kam, dann aber in kurzer Zeit zu einer hochmargigen Milliardenmarke wurde, für beliebig wiederholbar. Doch das eine war eine vorübergehende Phase, das andere ein eher zufälliger als planbarer Erfolg. Sie kaschieren, dass organisch mehr als moderates Wachstum für die Global Player aus dem Getränke- und Nahrungsmittelsektor nicht mehr möglich ist. Doch dies einzugestehen, wäre bei Nestlé ein Tabubruch. Zwar ist die starre Vorgabe von 5 bis 6 %, die viele Jahre für das organische Wachstum von Nestlé galt, von CEO Mark Schneider gleich zu Beginn seiner Amtszeit gekappt worden. Das war überfällig, da dieses Ziel seit 2013 stets und in immer größerem Maße verfehlt worden war. Doch nach wie vor werden für 2020 und die Jahre danach unrealistische Raten “im mittleren einstelligen Bereich” versprochen. Erreicht werden soll das, indem das Sortiment zügig auf Bionahrung bzw. aktuell angesagte Speisen und Getränke umgestellt wird. Denn gesund und hip muss nun alles sein, was von Nestlé als Innovation verkauft oder akquiriert wird. Vor allem so will der Konzern starkes und profitables Wachstum erzielen. Doch die Erlöspotenziale werden über- und die mit der Neuausrichtung verbundenen Risiken unterschätzt. Davon ausgehend, dass die von Konzernchef Schneider avisierte Wachstumsrate zumindest eine 4 vor dem Komma haben sollte – sonst wäre die vage Vorgabe ohnehin nur Schönfärberei -, erreichte 2017 keine (!) der sieben Produktgruppen Nestlés dieses Ziel. Der Bereich Nutrition und Health Science, der der Stoßrichtung des Nestlé-Managements am nächsten kommt, kam gerade mal auf 2,1 % organisches Wachstum und lag damit sogar noch unter der Konzernrate von 2,4 %. Nutrition und Health Science sowie artverwandte Sparten zeigen aber auch, wie leicht und schnell man sich auf der Suche nach wachstums- und margenstarken Geschäften irren kann: Vor vier Jahren hatte Nestlé das Dermatologie-Unternehmen Galderma, das zuvor als Joint Venture mit L’Oréal betrieben worden war, für 3,1 Mrd. Euro ganz übernommen. Die Schweizer mussten seinerzeit viel Kritik einstecken. Es wurde – auch an dieser Stelle – gefragt, was eine Firma, die sich auf die Bekämpfung von Hautkrankheiten spezialisiert hat und Salben gegen Akne bzw. Pillen gegen Haarausfall produziert, mit Lebensmitteln zu tun hat, von denen Nestlé stets betont, sie blieben das Kerngeschäft. Nun wurde der Goodwill wegen der “momentanen Geschäftsaussichten” von Nestlé Skin Health, dessen Fundament Galderma ist, um 2,8 Mrd. auf 0,3 Mrd. sfr abgeschrieben.Für den Fehlgriff Galderma kann CEO Schneider nichts. Doch für die in seiner noch jungen Amtszeit getätigten Akquisitionen und Desinvestitionen, die nach der Strategie von Nestlé zielführender sind als früher, muss er geradestehen. Vor Jahresfrist hatte der ehemalige Vorstandschef von Fresenius deutlich gemacht, dass großvolumige Übernahmen unter anderem wegen der hohen Bewertungen in der Branche unwahrscheinlich seien. So war die kanadische Atrium, ein Hersteller von natürlichen Nahrungsergänzungsmitteln mit einem Umsatz von 700 Mill. Dollar und zweistelligen Wachstumsraten, mit 2,3 Mrd. Dollar der kostspieligste Kauf. Dem gegenüber steht der Verkauf des US-Süßwarengeschäfts an die italienische Ferrero für 2,8 Mrd. Dollar; es stand für 920 Mill. Dollar Erlös, kam aber nicht weiter voran. Der nächste größere Verkauf dürfte die Lebensversicherungssparte von Gerber werden, die 2007 mit dem Babynahrungsgeschäft gleichen Namens von Novartis übernommen wurde. Alle Zu- und Verkäufe der jüngeren Zeit bringen Nestlé wohl voran. Doch es sind eben nur Arrondierungen; diese führen bei einem Konzern mit rund 78 Mrd. Euro Umsatz zu keinen signifikanten Veränderungen. Wie bis 2020 das organische Konzernwachstum fast verdoppelt werden soll, bleibt daher das Geheimnis der Nestlé-Führung. Ganz zu schweigen von der Frage, ob es sinnvoll ist, stabile Umsätze – so positiv belegt kann man es nämlich auch sehen – gegen womöglich volatile Erlöse aus kurzlebigen Ernährungstrends wie kalt gebrautem Kaffee einzutauschen.—–Von Martin DunzendorferNestlé will wieder im mittleren einstelligen Bereich wachsen. Mit dem Auffrischen des Portfolios, dessen Risiken unterschätzt werden, ist das nicht zu schaffen.