LEITARTIKEL

Schuld und Sühne

Die Kritik von Carlos Ghosn an Japans Justiz ist teilweise übermäßig hart ausgefallen: So bezeichnete der Automanager, der quasi in einem Privatjet lebte, die drei Wochen in einer fünf Quadratmeter großen, fensterlosen Haftzelle etwas übertrieben...

Schuld und Sühne

Die Kritik von Carlos Ghosn an Japans Justiz ist teilweise übermäßig hart ausgefallen: So bezeichnete der Automanager, der quasi in einem Privatjet lebte, die drei Wochen in einer fünf Quadratmeter großen, fensterlosen Haftzelle etwas übertrieben als “Menschenrechtsverletzung”. Im Kern der Sache haben seine Vorwürfe jedoch ihre Berechtigung. Schließlich fordern auch Anwälte, pensionierte Richter und Ex-Staatsanwälte in Japan seit langem eine Reform der Strafjustiz, weil ihr die Balance fehlt. Eine vorläufige Festnahme dauert bis zu 72 Stunden, danach lässt der Haftrichter die Polizei in der Regel weitere 20 Tage gewähren. Erst dann muss eine Anklage stehen. Bei keinem Verhör ist ein Anwalt zugegen. Gesteht der Beschuldigte nicht, wird er oft wegen eines ähnlichen Vorwurfs erneut festgenommen, die Untersuchungshaft beginnt von vorn. Diese “Geiseljustiz” dient dem Ziel, ein Geständnis zu erpressen, was Unschuldige unnötig bestraft. Dass die Justizministerin trotzdem behauptet, Ghosn habe mit seinen Anschuldigungen dem Ruf der japanischen Justiz geschadet, zeigt die geringe Bereitschaft in Japan, aus dem Fall zu lernen und die Habeas-Corpus-Rechte zu stärken.Geringe Lernfähigkeit zeigte indes auch Ghosn in Bezug auf die japanische Unternehmenskultur, in der er immerhin über viele Jahre hätte heimisch werden können. Ghosn wollte wie der Chef eines US-Autobauers honoriert werden, aber aufgrund der japanischen Unternehmenskultur konnte Nissan diese hohen Summen nicht bezahlen. Dadurch fühlte sich Ghosn permanent unter Wert gehandelt. Als der Verwaltungsrat die Autorität für die Vergütungen der Manager an ihn delegierte, wurde die Grenze zwischen seinen privaten Interessen und denen des Unternehmens verwischt. Dafür gibt es, abgesehen von den strafrechtlichen Vorwürfen in Japan, einen aktuellen Beleg: Seit seiner Flucht wohnt Ghosn in Beirut ausgerechnet in jener Villa, die Nissan einst zu seiner Verfügung auf Firmenkosten gekauft und renoviert hat.Mit der fortgesetzten Nutzung des Hauses zeigt der Manager seinen Anspruch, über das Unternehmen und seine Mittel weiterhin nach Gutdünken zu verfügen, sogar über sein Ausscheiden hinaus. Auch mit seinem Managementstil hat Ghosn zu seinem Sturz beigetragen. In Beirut kommentierte er die derzeitige Zusammenarbeit von Nissan und Renault mit dem Satz “Konsens funktioniert nicht.” Anders gesagt: Nur indem “Le Cost Cutter” über Nissan autokratisch herrschte, habe er die Allianz mit Renault zum Erfolg führen können. In Wirklichkeit ist Ghosn eine fatale Fehlkalkulation unterlaufen: Er landete im Gefängnis, weil er den Konsens als zentrales Leitungsprinzip in japanischen Unternehmen missachtete. Denn die Palastrevolte führten ehemals loyale Mitmanager an, die ihrem Chef nicht mehr vertrauten. Ihnen kann man vorwerfen, dass sie jahrelang weggeschaut und das System Ghosn geduldet haben. Aber der hatte selbst einen Führungsstil kultiviert, der japanische Basiswerte wie Bescheidenheit und die Unterordnung des Einzelnen unter die Interessen der Gruppe komplett ignorierte.Eigentlich hätte man annehmen können, dass der Manager mit seinen multikulturellen Wurzeln für die spezifisch japanische Unternehmenskultur sensibler wäre. Aber Ghosn begründete seinen Erfolg bei Nissan vor allem damit, dass er die Tabus dieser Kultur gebrochen habe, etwa als er das etablierte Netzwerk von Zulieferern zerschlug. Die “positiven” Erfahrungen seines “antijapanischen” Handelns machten ihn blind dafür, dass die Nissan-Manager immer unzufriedener mit ihrer demütigenden Position in der Allianz wurden. Sie verkauften mehr Autos, erzielten mehr Gewinn und entwickelten überlegene Technologien, aber ihre Anteile an Renault blieben ohne Stimmrecht, während die Anteile des französischen Staates doppelt zählten. Schließlich fiel der Börsenwert von Renault sogar unter den ihrer Tochter Nissan. Doch Ghosn blieb taub für den Unmut der Japaner und begründete seine hohen Gehaltsforderungen sogar noch mit der Stärke von Nissan innerhalb der Allianz.Seine Flucht aus Japan lässt sich weder mit der “Geiseljustiz” noch mit dem “Putsch” bei Nissan rechtfertigen. Dadurch hat sich der Manager in die unmögliche Situation gebracht, dass er seine Unschuld im Exil beweisen muss, anstatt sich vor dem zuständigen Gericht zu verantworten. Unter den jetzigen Umständen wird Ghosn niemals jene Reputation zurückbekommen, die er sich so offensichtlich wünscht. ——Von Martin Fritz Aufgrund seiner Flucht muss Carlos Ghosn nun seine Unschuld im Exil beweisen, anstatt sich vor dem zuständigen Gericht zu verantworten.——