Schweres Erbe
LEITARTIKEL
Schweres Erbe
Von Annette Becker
Bill Anderson tritt als Bayer-Chef ein schweres Erbe an. Viel Zeit zum Sortieren werden ihm die Investoren nicht zugestehen.
Lange, manche mögen sagen zu lange, hat Bayer-Aufsichtsratschef Norbert Winkeljohann an Werner Baumann als CEO festgehalten. Heute, am 1. Juni, ist es nun so weit: Bill Anderson tritt an die Vorstandsspitze von Bayer – nach nur zwei Monaten Einarbeitungszeit. Zum Kennenlernen des global aufgestellten Pharma- und Agrochemiekonzerns mit gut 100.000 Beschäftigten und einem Umsatz von 50 Mrd. Euro ist das wahrlich keine lange Zeit. Vorschusslorbeer für den Neuen hatten die Investoren reichlich gespendet, wenngleich sich die Kursgewinne inzwischen wieder verflüchtigt haben. Allein die Nachricht von Anderson als Baumann-Nachfolger hatte Anfang Februar einen Kurssprung um 10% ausgelöst. Dabei hatte die Aktie den Dax in Erwartung einer baldigen Nachfolgeregelung seit Jahresbeginn hinter sich gelassen.
Die Bilanz von Werner Baumann, der sein gesamtes Berufsleben bei Bayer verbrachte, fällt gemischt aus. Denn erst die sieben Jahre als Vorstandsvorsitzender – er hatte im Mai 2016 die Nachfolge von Marijn Dekkers angetreten, dem ersten Bayer-Chef, der von außen kam – passten so gar nicht in die vorherige Erfolgsvita des akribischen Arbeiters. Nicht grundlos war Baumann in seiner letzten Bilanzpressekonferenz in die Offensive gegangen: „Mein CEO-Dasein beschränkt sich nicht auf Monsanto.“
Allerdings lässt sich auch nicht wegdiskutieren, dass Baumann in der Kommunikation praktisch vom ersten Tag an grobe Schnitzer unterliefen. Hatte der einstige Finanzchef des Konzerns kurz vor der Amtsübernahme Kontinuität signalisiert, folgte wenige Wochen später die Kehrtwende: Bayer nahm Anlauf zur größten Übernahme der Firmengeschichte.
Die Tragödie rund um die im Mai 2016 initiierte Monsanto-Übernahme ist hinlänglich bekannt: Nach der Unterzeichnung des Übernahmevertrags im September dauerte es bis Anfang Juni 2018, bis die Transaktion unter Dach und Fach gebracht war. Die Freude ob der reibungslos verlaufenen Finanzierung der 63 Mrd. Dollar teuren Akquisition – das Grundkapital wurde immerhin um fast 20% erhöht – sollte jedoch nicht lange währen. Denn schon am 10. August 2018 fiel das erste Glyphosat-Urteil, in dem Bayer zu Schadenersatzzahlungen verdonnert wurde. In der Folge baute sich eine riesige Klagewelle auf. Nach einigen Irrungen und Wirrungen, inklusive der Nichtentlastung in der Hauptversammlung 2019, versuchte Baumann im Sommer 2020 den Befreiungsschlag mit einem milliardenschweren Vergleichspaket. Vollständig aus dem Weg geräumt sind Erblasten von Monsanto aber bis heute nicht.
Ein Vergleich der Bilanzen 2015 und 2022 belegt die Geschichte: Ausgehend von gut 46 Mrd. Euro hat sich der Konzernumsatz bis 2022 lediglich um knapp 10% erhöht. Das operative Ergebnis vor Sonderlasten legte zwar um knapp ein Drittel zu. Dennoch verdiente Bayer im vorigen Jahr vor Steuern 11% weniger als 2015. Stand damals schon ein Goodwill von gut 16 Mrd. Euro in der Bilanz, waren es 2022 fast 40 Mrd. Euro. Die Nettoverschuldung, wiewohl sie seit 2018 zurückgeführt wird, belief sich zuletzt auf 31,8 Mrd. Euro verglichen mit 17,4 Mrd. Euro Ende 2015. Das spiegelt sich auch in der Marktbewertung: Bis heute notiert die Aktie 47% unter dem Niveau von Mai 2016. Selbst wenn die Dividende als reinvestiert einkalkuliert wird, errechnet sich eine Gesamtrendite von −30%. Zum Vergleich: Der Dax hat zeitgleich 59% dazugewonnen.
Keine Frage, Bill Anderson tritt ein schweres Erbe an, und das nicht nur, weil die mit Monsanto ins Haus geholten Rechtsrisiken noch nicht restlos beseitigt sind. Vielmehr gilt es auch, die Pharmasparte in der Spur zu halten, laufen die Patente der beiden wichtigsten Medikamente doch in den nächsten Jahren aus. Zwar gibt es in der späten Entwicklungspipeline vielversprechende Kandidaten, bis diese ihr volles Umsatzpotenzial entfalten, werden jedoch noch einige Jahre verstreichen. Der finanzielle Handlungsspielraum, um die Patentklippe akquisitorisch zu umschiffen, ist angesichts der hohen Verschuldung nicht vorhanden. Die Ära Baumann wird stets mit Monsanto verknüpft bleiben. Welchen Stempel Anderson dem Konzern aufdrücken wird, dürfte sich noch in diesem Jahr abzeichnen. Denn die Geduld der Investoren ist allmählich erschöpft.