Notiert inTokio

Skandale erschüttern Kabuki-Theater

Japanische Prominente müssen "richtig leben und richtig sterben". Ein berühmter Kabuki-Schauspieler hat diese gesellschaftliche Forderung nicht erfüllt.

Skandale erschüttern Kabuki-Theater

Notiert in Tokio

Kabuki versinkt im Skandalsumpf

Von Martin Fritz

Kennen Sie Kabuki? Diese derbe und komödiantische Theaterform mit Tanz, Gesang und Pantomime von ausschließlich männlichen Schauspielern entstand vor etwa 400 Jahren für das gemeine Volk als Alternative zur raffinierten Kunst des Noh-Theaters, das sich an die adelige Oberschicht richtete. Kabuki ist bei Japanern wie ausländischen Touristen gleichermaßen beliebt, auch wenn es manchmal wirkt wie in der Tradition erstarrt.

Zwei Skandale um bedeutende Schauspieler trüben derzeit das positive Image, aber beleben auch das Publikumsinteresse an dieser alten Kunst. Betroffen ist das dominierende „Ennosuke Kabuki“, das auf fliegende Schauspieler, Pyrotechnik und schnelle Kostümwechsel setzt. Seine wichtigste Gestalt heißt Ichikawa Ennosuke III, der als Regisseur und Schauspieler die letzten Jahrzehnte prägte. Seine Produktionen waren Kassenschlager. Sein Nachfolger „Ichikawa Ennosuke IV“, ein Neffe von ihm, ging noch einen Schritt zum Populismus weiter und brachte beispielsweise das Manga-Epos „One Piece“ und Videospiele auf die Bühne.

Ennosuke IV sorgte für den aktuellen Skandal. Am 18. Mai wurde er bewusstlos in seiner Wohnung aufgefunden. Die Leichen seiner Eltern lagen in einem anderen Stockwerk. Ennosuke IV sagte der Polizei später, dass er gemeinsam mit ihnen sterben wollte, aber offenbar nicht genug Schlaftabletten genommen hatte. Den Grund nannte er nicht. Aber die Selbsttötungen fanden an jenem Tag statt, an dem ein Magazinbericht erscheinen sollte, der dem Schauspieler massenhafte sexuelle Belästigungen und Nötigungen von Mitarbeitern und anderen Personen vorwarf. Darauf soll er seine Eltern gezwungen haben, mit ihm Selbstmord zu begehen. Nun wurde Ennosuke IV auf Kaution entlassen, aber kehrt wohl nie wieder auf die Bühne zurück.

Aufgrund der Verhaftung übernahm Ichikawa Chusha IX die Hauptrollen von Ennosuke IV im laufenden Programm, obwohl er selbst in einen ähnlichen Skandal verstrickt war. Im vergangenen Sommer hatte ein Magazin enthüllt, dass Chusha IX in betrunkenem Zustand eine Barhostess im Ginza-Viertel begrapscht, ihr den BH heruntergerissen und sie zu einem Kuss gezwungen hatte. Die Hostess, eine Art Unterhaltungsdame in Bars, zerrte ihren Arbeitgeber vor den Kadi, zog die Klage aber zurück. Chusha IX entschuldigte sich für den Vorfall, dennoch verlor er seine lukrativen Jobs als Werbefigur für Unternehmen wie Toyota und als Moderator verschiedener TV-Shows.

Interessanterweise ist Chusha IX der uneheliche Sohn ebenjener Kabuki-Legende Ennosuke III, der seinen Abkömmling jedoch jahrzehntelang verleugnete. Daher wuchs er nicht in der Kabuki-Welt auf, sondern verfolgte eine Karriere als Bühnen-, Film- und TV-Schauspieler. Erst nach der Versöhnung mit seinem berühmten Vater und schon im mittleren Alter begann er damit, sich die Kabuki-Schauspielkunst anzueignen. Dabei zeigte er sich unerwartet lernfähig. Durch die Übernahme der Rollen von Ennosuke IV gelang Chusha IX nun der Wiedereinstieg ins Showgeschäft – Kennern zufolge ist Kabuki eben eine „sehr verzeihende Welt“.

Aber die Aufregung über den Selbstmord der Eltern von Ennosuke IV bleibt groß. Denn in Japan werden Prominenten einschließlich Kabuki-Größen kulturelle Autorität und symbolischer Einfluss zugesprochen, schreibt der Wissenschaftler Igor Prusa in seinem soeben erschienenen Buch „Scandal in Japan“. Gleichzeitig betrachten die Medien die VIPs als öffentliches Eigentum mit bestimmten Aufgaben und Pflichten und als Stellvertreter nationaler Tugenden. „Japanische Prominente müssen ‚richtig leben und richtig sterben‘”, so Prusa. Wie zur Bestätigung kritisierten die Tageszeitungen den Selbstmordversuch von Ennosuke IV und seine Mithilfe bei der Selbsttötung seiner Eltern als „Vermeidung von Verantwortung“. Als zynisches Ergebnis bleibt, dass die Besucherzahlen von Kabuki gestiegen sind, was das alte Sprichwort rechtfertigt, dass es keine schlechte Publicity gibt.

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