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Die Geschichte eines Niedergangs

Ob Pandemie oder hohe Energiekosten – lange Zeit steckte Gerresheimer die multiplen Krisen einfach weg. Doch seit der Gewinnwarnung im Herbst 2024 ist nichts mehr, wie es war.

Die Geschichte eines Niedergangs

Der brutale Niedergang von Gerresheimer

Ob Pandemie oder hohe Energiekosten: Lange Zeit steckte Gerresheimer die multiplen Krisen
einfach weg. Doch seit der Gewinnwarnung im Herbst 2024 ist nichts mehr, wie es war.

Von Annette Becker, Köln

Größer, schneller, weiter. Das war der Ansatz, den Dietmar Siemssen bei seinem Antritt an der Vorstandsspitze von Gerresheimer verfolgte. Mit vollmundigen Ankündigungen wusste er die Anleger zunächst zu überzeugen. „Wir werden das Unternehmen in den Angriffsmodus bringen“, war so ein Satz, der im Februar 2019 an der Börse Vorschusslorbeeren einbrachte. Dass die wachstumsträchtigen Versprechen selten erfüllt wurden, störte die Investoren lange Zeit nicht.

2020 verschaffte die Corona-Pandemie – zumindest gefühlt – eine Sonderkonjunktur. Der Grund: Gerresheimer war einer von weltweit nur drei Herstellern, die Impfstofffläschchen (Vials) aus Borosilikatglas produzierten. Diese wurden für den Corona-Impfstoff benötigt. Dass es sich wirtschaftlich betrachtet nur um ein überschaubares Zusatzgeschäft handelte, fiel nicht ins Gewicht. Binnen weniger Monate schnellte der Aktienkurs 2020 um 60% in die Höhe.

Der nächste Hype

Die Impfstoffeuphorie ebbte 2022 ab und mit ihr der Aktienkurs. Doch der Hersteller von Spezialverpackungen für die Pharma- und Kosmetikindustrie musste nicht allzu lange auf den nächsten Hype in Form der Abnehmspritze warten. Die GLP-1-basierten Medikamente kamen 2021 auf den Markt und versprachen ein Riesengeschäft zu werden. „Für uns ergibt sich ein Potenzial von mehreren hundert Millionen Euro im Jahr“, gab sich Siemssen siegesgewiss. Gerresheimer machte sich daran, in entsprechende Produktionskapazitäten zu investieren. Der Applaus von der Börse war gewiss.

Doch die hochfliegenden Pläne, die in der Übernahme von Bormioli Pharma gipfelten, fanden mit der ersten Gewinnwarnung im September 2024 ein abruptes Ende. Pleiten, Pech und Pannen wollen seither nicht abreißen. „Aus meiner Warte hat der aggressive Fokus auf Wachstum in Kombination mit zu großen Versprechungen das Unternehmen in eine äußerst brisante Lage gebracht“, stellt Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, ernüchtert fest.

Vertrauensentzug

Nach der jüngsten Gewinnwarnung – die vierte binnen 18 Monaten – ist das Vertrauen am Kapitalmarkt vollends zerstört. Heute ist längst keine Rede mehr von zweistelligen Wachstumsraten und operativen Margen in den Mittzwanzigern. Die im MDax gelistete Aktie ist keine 30 Euro mehr wert. Zum Vergleich: Im Frühjahr, als Gespräche mit Finanzinvestoren über ein mögliches Übernahmeangebot aufgenommen wurden, soll zunächst ein Übernahmepreis von 90 Euro je Aktie im Gespräch gewesen sein.

Heute bringt Gerresheimer nur noch knapp 1 Mrd. Euro auf die Börsenwaage. Gemessen an der Marktkapitalisierung ist das Unternehmen damit das Fliegengewicht im MDax. Tüngler gibt dem Management eine Mitschuld an der dramatischen Entwicklung: „Das Erwartungsmanagement, das in den letzten Jahren betrieben wurde, ist eine Katastrophe. Das rächt sich jetzt.“

Aus dem Deal mit Private Equity wurde bekanntermaßen nichts. Mitte Juli erklärte Gerresheimer die Gespräche endgültig für beendet. Ob die zu geringe Zahlungsbereitschaft der Investoren den Ausschlag gab, die zu hohe Verschuldung des Unternehmens oder Zweifel am Geschäftsmodell ist nicht bekannt. Fakt ist gleichwohl, dass der Rückzug der Finanzinvestoren ein fatales Signal an den Kapitalmarkt sendete. „Das ist ganz grundsätzlich toxisch für eine Aktie“, weiß Tüngler.

Druck von Aktionärsaktivisten

Inzwischen ist Gerresheimer zum Spekulationsobjekt geworden. Im Eigentümerkreis tummeln sich eine Reihe von aktivistischen Investoren. Die aktuelle Quote der Leerverkäufe liegt mit 10,92% deutlich über dem Mittel der vergangenen zwölf Monate (4,21%). Inwieweit der Vorstand noch das Sagen hat, steht dahin.

Active Ownership (AOC), die ihr Engagement im August öffentlich machte, hat inzwischen auf 10,63% aufgestockt und will „Management und Aufsichtsrat konstruktiv“ beim Erschließen des „beträchtlichen Wertsteigerungspotenzials“ begleiten. „Active Ownership ist für das Management sicher ein herausfordernder Akteur. Doch das Management hat die Geister selbst gerufen“, sagt Tüngler. Er setzt auf den Druck, den der Investor macht, um Veränderungen herbeizuführen. „Das muss nicht per se schlecht sein.“

Personalkarussell dreht sich

Erste Veränderungen hat es bereits im Management gegeben. Seit Anfang September ist mit Wolf Lehmann ein neuer Finanzvorstand an Bord, der das Portfolio aufräumen und die Effizienz steigern soll. Kurz nach dem Vorstandswechsel gab die Finanzmarktaufsicht während des Börsenhandels bekannt, eine anlassbezogene Bilanzprüfung einzuleiten. Investoren zählten vermeintlich eins und eins zusammen, die Aktie brach erneut ein. „Das Unternehmen muss doch die Chance haben, vor Handelseröffnung darauf zu reagieren“, kritisiert Tüngler das Vorgehen der BaFin und ergänzt: „In solchen Fällen darf man durchaus fragen, wer für den 30-prozentigen Kursabsturz haftet.“

Die Krise trifft Vorstandschef Siemssen zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Sein Vorstandsvertrag läuft im Oktober 2026 aus. Mithin wäre es genau jetzt an der Zeit, in Gespräche über eine Vertragsverlängerung einzutreten.

Verschuldung im Blick

Derweil kommen Analysten mit dem Anpassen ihrer Kursziele kaum noch nach. Obwohl die Aktie inzwischen so billig ist, wie zuletzt vor 15 Jahren ist, raten einige Aktienexperten mittlerweile zum Verkauf. Zweifel gibt es nicht nur mit Blick auf die Wachstumsperspektiven. Sorge bereitet auch die hohe Verschuldung. Um das Geld beisammen zuhalten, wurde die Dividende in diesem Jahr schon auf das gesetzliche Minimum gekürzt.

Bis zum Ende des Geschäftsjahres dürfte die Nettoverschuldung auf etwa das 4,5-Fache des operativen Ergebnisses hochlaufen, schätzen Analysten. Der hohe Zinsdienst hat schon im dritten Quartal rote Zahlen beschert. Die mangelhafte Transparenz ist derzeit das größte Manko. Doch den für 15. Oktober angesetzten Kapitalmarkttag hat der Vorstand kurzerhand abgeblasen. Auch das lässt Raum für Spekulationen.