LEITARTIKEL

Tod und Wiedergeburt

Siemens wird am 1. Oktober 172 Jahre alt. Der Konzern hat in dieser Zeit mehrere industrielle Revolutionen, Weltkriege und die Globalisierung gemeistert. Angesichts derart historischer Umwälzungen erscheint es anmaßend, das Geschäftsjahr 2018/2019...

Tod und Wiedergeburt

Siemens wird am 1. Oktober 172 Jahre alt. Der Konzern hat in dieser Zeit mehrere industrielle Revolutionen, Weltkriege und die Globalisierung gemeistert. Angesichts derart historischer Umwälzungen erscheint es anmaßend, das Geschäftsjahr 2018/2019 als eine der einschneidendsten Perioden der Unternehmensgeschichte zu charakterisieren. Doch genau dies ist es. Siemens befindet sich in einem Übergang. Das Unternehmen stirbt und ersteht neu. Die Frage ist, welche konkrete Gestalt der Konzern als Digitalisierungsspezialist für die Industrie, Kraftwerksgigant, Bahn-Bauer und Medizintechnik-Konzern annehmen wird. Wird die Story eine kraftvolle Reinkarnationserzählung oder eine Horrorgeschichte voller Untoter?Die Antwort der Investoren, in der wenig prosaischen Form von Aktienkursen gegeben, fällt eindeutig aus. Denn die Performance in dem laufenden Geschäftsjahr ist ein Desaster – dies zeichnet sich wenige Tage vor dem Ende des Abrechnungszyklus am 30. September ab. Seit der Finanzkrise haben die Blue Chips im Deutschen Aktienindex und im Euro Stoxx 50 den Konkurrenten Siemens nur einmal noch deutlicher abgehängt als im ablaufenden Geschäftsjahr. Die Siemens-Aktie liegt mit einem zweistelligen Prozentsatz im Minus, während Euro Stoxx 50 und Dax jeweils leicht zulegen.Auch die jährliche Rendite inklusive reinvestierter Dividenden lässt die Anleger frösteln. Das Minus ist mit 13 % so hoch wie sonst nur einmal in diesem Jahrzehnt. Schlimmer noch: Während die Anleger im ebenfalls schlechten Geschäftsjahr 2014/2015 eine gewisse Frusttoleranz zeigen konnten, weil im vorherigen Turnus der Wert ihres Siemens-Depots gestiegen war, waren sie in die aktuelle Periode mit der spürbar negativen Jahresrendite 2017/2018 im Gepäck gestartet. Also kann kein Fondsmanager ein Auge zudrücken. Dies gilt umso mehr, als vier von fünf jener Wettbewerber, mit denen sich die Siemens-Manager für ihre eigene Entlohnung messen, ihren Wert in diesem Geschäftsjahr gleich gut oder besser als Siemens verändert haben. Nur der Krisenfall General Electric schneidet viel schlechter ab.Eine Horrorgeschichte voller Untoter also? Wäre dies die Antwort des Kapitalmarktes, müsste man staunen. Schließlich liefert der Vorstand rund um Chef Joe Kaeser, was die Anleger seit mehr als einer Dekade fordern. Das Konglomerat löst sich seit einigen Jahren auf, damit die Einzelunternehmen reaktionsschneller werden. Im Mai 2019 fiel das letzte Tabu. Siemens gibt sogar die Mehrheit an einem Kerngeschäft auf. Der Kraftwerksbau wandert in ein eigenes Unternehmen, der Konzern spaltet sich auf. Die Wahrheit ist daher: Auf der Tonspur liefern die Anleger viel mehr Lob für den Umbau, als sich in ihren Investments widerspiegelt. Sie beschreiben eine Wiederauferstehung robuster Firmen. Woher kommt diese Differenz zwischen Wort und Tat?Hierfür gibt es vielerlei Gründe. So sind Infrastrukturanbieter generell von einer Flaute getroffen, außerdem zieht die Krise der Sparte Konventionelle Energieerzeugung die Konzernbewertung nach unten. Zudem hat die schlechte Performance der Kernsparte Industrie-Digitalisierung von April bis Juni alte Ängste der Anleger geweckt. Siemens reagiert demnach immer zu spät auf Konjunktureintrübungen. Außerdem tauchen wieder Zweifel auf, ob die extrem hohe Marge der Sparte in den vergangenen Jahren ein Ausnahmephänomen war. Mit Blick auf den Umbau wünschen die Investoren teils ein noch radikaleres Vorgehen. Vor allem aber erscheint es ihnen rational, ihren Worten vorerst keine Taten folgen zu lassen. Sie warten ab, weil die Umsetzungsrisiken zu hoch, die Restrukturierungskosten zu unkalkulierbar und die Positionierung der neuen Firmen zu unklar sind.——Von Michael FlämigDer Kapitalmarkt ignoriert die Siemens-Story. Dafür gibt es gute Gründe. Aktuell führt dies jedoch zu einer absurd niedrigen Bewertung des Konzerns. ——