US-Gewerkschaften preschen wieder vor
US-Gewerkschaften blasen zum Angriff
Hohe Inflation und Einkommensgefälle zwischen Angestellten und Management treiben Arbeitsniederlegungen an
Von Peter De Thier, Washington
Arbeitnehmer in der US-Automobilindustrie streiken seit Mitte September. Sie fordern unter anderem Lohnerhöhungen, die über vier Jahre verteilt sind, und aufgrund der hohen Inflation eine Anpassung der Lohnentwicklung an die Lebenshaltungskosten.
Amerikas Gewerkschaften sind im “Sommer der Streiks”, wie die letzten drei Monate in den USA genannt werden, wieder selbstbewusst geworden. Folgenschwere Streikaufrufe gab es im August so viele wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Zahl der Arbeitstage, die verloren gingen, erreichte den höchsten Stand seit kurz nach der Jahrtausendwende. Ökonomen machen sich nun Sorgen um die gesamtwirtschaftlichen Folgen, sollten die betroffenen Branchen – von der Autoindustrie über die Entertainmentbranche bis hin zu Hotelangestellten in Kalifornien – außerstande sein, zügig Kompromisse zu schließen und neue Tarifverträge auszuhandeln.
Kein Ende in Sicht
Zwar kam es am Wochenende in einigen Branchen zu einer Annäherung. So einigte sich die Writers Guild of America (WGA), die Gewerkschaft der Drehbuchautoren, mit den Vorständen der führenden Hollywood-Studios auf einen neuen Tarifvertrag. Dieser könnte noch diese Woche ratifiziert werden. Zuvor hatten die WGA-Mitglieder 146 Tage in Folge die Arbeit niedergelegt. Sie waren auf Kurs, den längsten Streik in ihrer Geschichte, der sich 1988 über 154 Tage erstreckte, zu übertreffen. Ihre Forderungen: bessere Bezahlung, Tantiemen für die Erlöse aus Streaming-Diensten und Schutz davor, dass künstliche Intelligenz sie in den kommenden Jahren den Job kostet.
In anderen Branchen ist aber für das Tauziehen zwischen Arbeitnehmervertretungen und Management kein Ende in Sicht. Wie aus einem neuen Bericht des Bureau of Labor Statistics (BLS) hervorgeht, verlor die US-Wirtschaft allein im vergangenen Monat durch Streiks mehr als 4,1 Millionen Arbeitstage. Werden die Ausfälle im Juli dazugezählt, dann klettert die Zahl auf fast 7 Millionen. Der Vergleich zum Vorjahr sticht ins Auge. So betrug laut BLS im Juli und August 2022 die Zahl der Arbeitstage, die Streiks zum Opfer fielen, nur etwas mehr als 100.000.
Auch ist die Zahl der betroffenen Erwerbstätigen allein während der letzten zwei Jahre hochgeschossen. Wie eine Studie der angesehenen Cornell-Universität ergab, legten im gesamten Jahresverlauf 2021 nur 37.000 Gewerkschaftsmitglieder die Arbeit nieder. Vergangenes Jahr stieg die Zahl dann auf 123.000 und kletterte bis Mitte September dieses Jahres auf 362.000.
Steigende Unzufriedenheit
Zwar gilt die größte Aufmerksamkeit derzeit den Verhandlungen zwischen den „großen drei“ der US-Autoindustrie und der 146.000 Mitarbeiter zählenden Gewerkschaft United Auto Workers (UAW). Auch haben aber Hollywood-Schauspieler, Mitarbeiter führender Universitäten und selbst Starbucks-Baristas die Arbeit niedergelegt. Hinzu kommt, dass zigtausende Angestellte im Gesundheitswesen und auch Flugbegleiter mit Arbeitsniederlegungen drohen. Vor dem Hintergrund der hohen Inflation werden Lohnerhöhungen verlangt, aber auch bessere Sozialleistungen und teilweise eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit.
Die Preissteigerungen während der vergangenen eineinhalb Jahre sind aber nicht der einzige Grund für die Unzufriedenheit unter Arbeitnehmern. Auch hat die Irritation über das immer größere Einkommensgefälle zwischen Spitzenmanagern und der übrigen Belegschaft zugenommen. Wie das Forschungsinstitut Economic Policy Institute vorrechnet, stiegen von 1979 die inflationsbereinigten Bezüge der oberen 1% aller Einkommensbezieher um 122%. Bei den „unteren 90%“ hingegen kletterten die Reallöhne in demselben Zeitraum aber nur um 16%.
„Jedes Vorstandmitglied, das angesichts der hohen Inflation und des Wohlstandgefälles darüber verwundert ist, dass Arbeitnehmer entsprechende Lohnforderungen stellen und mehr Flexibilität bei der Gestaltung ihres Arbeitstages haben wollen, gibt sich einer Illusion hin“, sagt Joe Brusuelas, Chefökonom beim Wirtschaftsprüfungsunternehmen RSM. Dies wird auch von einem neuen Bericht der Federal Reserve Bank von New York bestätigt. Demnach erwarteten Personen im erwerbsfähigen Alter im Schnitt, dass ihnen in einem neuen Job ein Jahresgehalt von 67.416 Dollar angeboten wird. Sie sagen aber zugleich, dass sie keine Offerte unter knapp 79.000 Dollar annehmen würden.
Mangel an konkreten Prognosen
US-Finanzministerin Janet Yellen betonte kürzlich, dass es zu früh sei, um über die Konsequenzen der Arbeitsniederlegungen für die Gesamtwirtschaft zu spekulieren. Und in der Tat halten sich die Prognosen derzeit in Grenzen. Zu den wenigen Volkswirten, die konkrete Voraussagen machen, zählt Ian Shepherdson, Chefökonom bei Pantheon Macroeconomics. Sollte der Streik der Automobilarbeiter – deren Fertigung macht in den USA knapp 3% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus – noch lange dauern, dann könnte das Wirtschaftswachstum im dritten Quartal um 1,7 Prozentpunkte niedriger ausfallen, so der Experte.
Wenn die Streiks zudem Schule machen und die Gewerkschaften ihre Forderungen nach höheren Löhnen durchsetzen können, dürfte dies den Kampf der Fed gegen die Inflation erschweren. Schließlich sind steigende Löhne mit jährlichen Zuwachsraten von über 4% einer der stärksten Inflationstreiber. Sie könnten als Folge von Konzessionen seitens der Arbeitgeber die bisher erzielten Fortschritte bei der Inflationsbekämpfung gefährden. Laut Shepherdson bestünde das Problem der Währungshüter im Falle eines erneuten Anstiegs der Teuerung dann darin, “dass die Fed nicht genau wissen wird, welchen Anteil an den höheren Preisen sie den Arbeitskämpfen zuzuordnen hat”.
Ansehen der Gewerkschaften
An Selbstbewusstsein haben die Gewerkschaften aber nicht nur als Folge der Engpässe am Arbeitsmarkt gewonnen. Auch erfreuen sie sich in der breiten Öffentlichkeit so großer Popularität wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Zwar ist der Anteil der Arbeiter und Angestellten, die gewerkschaftlich organisiert sind, von 20% im Jahre 1983 auf 10,1% zurückgegangen. Wie aber eine neue Befragung illustriert, die der Arbeitnehmerdachverband AFL-CIO in Auftrag gegeben hat, unterstützen zwei Drittel aller Amerikaner und 88% der US-Bürger unter 30 Jahren die Gewerkschaftsbewegung. Die Zustimmungsquote ist die höchste seit 1965. Das bedeutet nicht zuletzt, dass die Arbeitnehmervertreter bei Tarifgesprächen und im Ringen um das öffentliche Ansehen einen wichtigen Wettbewerbsvorteil genießen. Und dieser könnte ihnen auch bei künftigen Verhandlungen den Rücken stärken.