Notiert in Moskau

Wenn Russen nachdenklich werden

Auch eineinhalb Jahre nach Beginn des Ukraine-Krieges steht der Westen vor der Frage, wie er die russischen Bürger zum Dissens mit dem politischen Kurs des Kremls bringen kann. Sie noch mehr vom Kontakt mit Europa fernzuhalten erscheint ziemlich kontraproduktiv. Das lehrt schon die Lektüre einer bemerkenswerten Autobiografie.

Wenn Russen nachdenklich werden

Notiert in Moskau

Wenn Russen nachdenken

Von Eduard Steiner

Vor einigen Jahren inszenierte ein Abgeordneter der russischen Opposition bei einem Treffen mit Rentnerinnen in der Provinz ein Gedankenexperiment. Er habe gefragt, erzählte er im Gespräch mit der Börsen-Zeitung, wie er denn im Parlament bei der Frage abstimmen solle, ob eine bestimmte Milliardensumme nun für eine Handvoll neuer Atom-U-Boote ausgegeben werden soll oder doch für eine Rentenerhöhung. Am liebsten wäre ihnen beides, antworteten die Frauen. Aber wenn man schon wählen müsse, dann würden sie sich eben noch eine Zeit lang mit der jetzigen Rente bescheiden, um bei der Anschaffung der U-Boote zu helfen. Persönlicher Wohlstand ist für viele Russen jenseits der kleinen Reichen- und der überschaubaren Mittelschicht kein besonders hohes Gut. Das sollte man sich in Erinnerung rufen, wenn Illusionen genährt werden, dass Sanktionen zu einem großflächigen Unmut inklusive Aufstandsbewegungen von unten führen.

Entscheidender ist ohnehin die Frage, wie man das Establishment von seiner Unterstützung der Kriegspolitik abbringt. Die personenbezogenen Sanktionen haben immerhin das Zeug dazu, maximalen Diskomfort bei jenen hervorzurufen, die es gewohnt waren, ihren Reichtum in die sicheren Staaten des Westens zu transferieren und dort zu genießen. Bislang freilich bleibt die Zahl jener sogenannten Oligarchen, die sich gegen Kremlchef Wladimir Putin stellen, marginal. Im August kam immerhin ein weiterer hinzu – Arkadi Wolosch, Gründer der Suchmaschine Yandex, der allerdings bereits seit 2014 in Israel lebt. „Russlands Invasion in die Ukraine ist barbarisch, und ich bin kategorisch dagegen“, schrieb er. „Ich bin entsetzt über das Schicksal der Menschen in der Ukraine (…), deren Häuser jeden Tag bombardiert werden.“

Zu einem schnellen Umschwung in Russland wird ein solches Statement einiger weniger freilich nicht beitragen. Aber es könnte immerhin die Voraussetzung dafür sein, von der Sanktionsliste gestrichen zu werden, wie es dem Bankindustriellen Oleg Tinkow gelang. Und es wäre sehr wohl im Interesse des Westens, diese Leute, die ja auch im Westen wirtschaftlich tätig waren und über hochqualifizierte Mitarbeiter verfügen, als Investoren zu gewinnen. Auch um die Mittelschicht, die den Westen im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte immerhin schon bereist hat, wird man sich beizeiten wieder bemühen müssen. Die neue Entscheidung der EU-Kommission, Russen die Einreise in EU-Länder mit in Russland zugelassenen Autos und das Mitführen von Smartphones, Laptops, Kosmetik oder gar Reisekoffern zu verbieten, ist daher höchst fraglich.

Man kann zu Recht einwenden, dass der Kontakt mit dem Westen den Krieg nicht verhindert hat. Man muss aber auch darauf hinweisen, dass gerade der entsprechende Kontakt der jüngeren Leute den Kreml im Laufe der Jahre immer nervöser gemacht hat. Von der Angst, dass westliche Ideen und der Lebensstil in Russland einsickern, war schon die Sowjetunion erfasst.

Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist, was der sowjetische Atomphysiker und Dissidenten Juri Orlow, der 2020 im amerikanischen Exil verstarb, in seiner lesenswerten Autobiografie „Ein russisches Leben“ erzählt. In den Monaten nach dem Zweiten Weltkrieg als 21-jähriger Offizier in der Tschechoslowakei und später in Ungarn stationiert, begann er unter dem Eindruck der dortigen Verhältnisse über sich und sein eigenes Land nachzudenken. Beim Anblick eines Bauernhofs nahe Prag nämlich war es „bitter zu sehen, wie sehr sich dieser florierende Hof von unseren bemitleidenswerten Kollektiven unterschied“. Und in der Nähe der ungarischen Stadt Pécs fand er „auf wundersame Weise eine Ausgabe der "Britanskj Sojusnik". Darin berichteten zwei in den USA lebende Wissenschaftler über ihre Emigration aus der UdSSR und die Inhaftierung sowjetischer Kollegen. Für den jungen Orlow, der später ein großer Menschenrechtsaktivist werden sollte, die Initialzündung zur Reflexion: "Was, zum Teufel, war mein Land für ein Land?"

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