Tokio

Wer zu spät kommt . . .

Bei drei Nachwahlen zum nationalen Parlament am vergangenen Wochenende hat die Liberaldemokratische Partei (LDP), die seit den 1950er Jahren fast ununterbrochen regiert, jeweils eine Niederlage erlitten. Die Ergebnisse belasten die Ambitionen von...

Wer zu spät kommt . . .

Bei drei Nachwahlen zum nationalen Parlament am vergangenen Wochenende hat die Liberaldemokratische Partei (LDP), die seit den 1950er Jahren fast ununterbrochen regiert, jeweils eine Niederlage erlitten. Die Ergebnisse belasten die Ambitionen von Premierminister Yoshihide Suga, die anstehende Parlamentswahl überzeugend zu gewinnen und sich dadurch im Amt zu behaupten. Der 72-Jährige war nämlich im September des Vorjahres nur mit Hilfe seines Vorgängers Shinzo Abe an die Regierungs- und LDP-Spitze gerückt, aber seine Amtszeit als Parteivorsitzender läuft im September ab. Die Parlamentswahl muss spätestens bis 21. Oktober stattfinden. Beide Er­eignisse hängen zusammen, da der LDP-Chef traditionell auch Premierminister wird.

Zwar dürfte die Regierungskoalition aus LDP und der kleinen Komei-Partei aufgrund der schwachen Opposition an der Macht bleiben, aber ohne einen starken Premierminister droht der Verlust vieler Mandate. Aktuell kontrolliert man zwei Drittel der Sitze. In der Regel löst ein Regierungschef das Parlament vorzeitig auf, wenn seine eigene Popularität hoch ist. Daher plante die LDP-Spitze eine vorzeitige Neuwahl ursprünglich für den Herbst, als Suga im Umfragehoch stand. Aber der Politiker zögerte und verspielte dabei seinen Antrittsbonus. Seitdem beschert ihm sein schlechtes Management der Corona-Pandemie miserable Umfragewerte. Daher dürfte er sich wie bei dem bekannten Gorbatschow-Spruch fühlen, fürs Zuspätkommen bestraft zu werden. Denn einerseits verhindern hohe Infektionszahlen und die Olympischen Spiele eine vorzeitige Neuwahl. Andererseits wächst mit dem Herannahen des letztmöglichen Wahltermins die Angst vieler Abgeordneter um ihren Sitz – was proportional ihren Wunsch steigert, die Galionsfigur Suga auszutauschen. Zum Beispiel gegen Taro Kono, den Minister für Digitalisierung und Impfen (!), den sich 24% der Japaner als Regierungschef wünschen. Von Suga sagen das nur 4%.

An dessen Dilemma dürfte sich in den nächsten Monaten wenig ändern: Suga fehlen einfach persönliche Ausstrahlung und rhetorische Überzeugungskraft. Seine Sätze sind nicht selten sprachlich wirr und inhaltlich irritierend: Zum Beispiel begründete er am vergangenen Freitag die Austragung der Olympischen Sommerspiele damit, dass Japan nur einen Auftrag der Internationalen Olympischen Komitees ausführe. Auf Twitter diskutierten viele Japaner, ob Suga wirklich an die Existenz von mehreren IOCs glaube oder sich nur versprochen habe. Aber die größte Unzufriedenheit mit seiner Regierung verursacht das ge­ringe Impftempo. Mit einer Impfquote von lediglich 1,3% steht Japan unter den OECD-Ländern an letzter Stelle.

Doch eine schnelle Besserung ist nicht in Sicht, weil die Probleme hausgemacht sind. Erstens fühlte sich die Politik lange Zeit nicht unter Handlungsdruck, da die Infektions- und Todeszahlen relativ niedrig blieben. Zweitens verzögerten die Gesundheitsbehörden die Zulassung von Vakzinen, weil es in der Vergangenheit zu Sammelklagen gegen die Regierung wegen Impfschäden gekommen war. Aus Misstrauen warten die Beamten daher lieber ab, ob es in anderen Ländern zu negativen Reaktionen kommt. Bisher ist nur das Mittel von Biontech/Pfizer erlaubt. Drittens hat Japan viel später als westliche Länder Impfstoffe bestellt. Daher steht man in der Reihenfolge der Empfänger weit hinten. Und viertens ist die durch zahlreiche Vorschriften stark gefesselte Verwaltung mit dem Abwickeln einer landesweiten Impfkampagne schlicht überfordert. Zum Beispiel dürfen nur zugelassene Ärzte die Spritzen setzen.

Die nationale Herausforderung zwingt die Bürokratie nun zum Improvisieren – was aber gar nicht zu ihren Talenten gehört. Der japanische Mediziner Kenji Shibuya, zurzeit der Direktor der Infektionsmedizin am renommierten King­’s College in London, erklärt den schwachen Umgang der Regierung mit Covid-19 mit einem Verweis auf das Ergebnis der unabhängigen Untersuchung zum AKW-Unfall in Fukushima im März 2011: „Derselbe Glaube wie damals, dass nämlich Japan immer einen Sonderfall darstellt, verhindert heute eine entschlossene­ Durchimpfung der Bevölkerung.“