LeitartikelReformen in Frankreich

Die Arbeit ist noch längst nicht getan

Die Proteste gegen die Rentenreform gehen trotz der Billigung durch den Verfassungsrat weiter. Macron will weiter reformieren, doch ihm schlägt seitens der Bevölkerung ein nie gekannter Hass entgegen.

Die Arbeit ist noch längst nicht getan

Frankreich

Die Arbeit ist noch längst nicht getan

Das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen, wird lange dauern

Von Gesche Wüpper

Die Proteste gegen die Rentenreform haben die Wirtschaft nicht blockiert, aber die politische Schwäche Macrons offenbart.

Er ist einer der wenigen Präsidenten Frankreichs, dem die Wiederwahl gelungen ist. Und er ist einer der wenigen, denen es gelungen ist, in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Eurozone eine Rentenreform durchzusetzen. Und doch gibt es für Emmanuel Macron wenig zu feiern, wenn sich am 14. Mai der Beginn seiner zweiten Amtszeit jährt. Die Rentenreform hat eine tiefe soziale Krise ausgelöst. Aus dem Machtkampf mit den Gegnern der Reform ist Macron auf den ersten Blick als Sieger hervorgegangen. Der Verfassungsrat hat ihm in der Sache Recht gegeben. Doch seine Umfragewerte sind tief gesunken. Zwar waren seine Vorgänger Nicolas Sarkozy und François Hollande zeitweise ähnlich unbeliebt, aber der Hass, den Macron inzwischen bei weiten Teilen der Bevölkerung hervorruft, ist von einer nie gekannten Heftigkeit. Inzwischen können weder er noch Mitglieder der Regierung in der Öffentlichkeit auftreten, ohne von Gegnern der Rentenreform mit lautem Topfschlagen empfangen zu werden.

Die Proteste gegen die geplante Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre sind noch lange nicht vorbei. Am 1. Mai wollen die Gewerkschaften wieder demonstrieren, zwei Tage, bevor der Verfassungsrat über einen weiteren Antrag für eine bestimmte Art von Referendum zur Rentenreform entscheiden will. Die im Januar begonnenen Proteste gegen das Reformprojekt haben Frankreichs Wirtschaft zwar weder blockiert noch großartig belastet. Sie haben jedoch die Verletzlichkeit des sozialen Klimas und die politische Schwäche Macrons vor Augen geführt. Für den Rest der 2027 endenden Amtszeit des französischen Präsidenten sind das alles andere als gute Voraussetzungen. Er selber hat sich 100 Tage Zeit gegeben, um seine Amtszeit bis zum 14. Juli wieder zu beleben und mehrere Baustellen anzugehen. Knapp drei Monate werden jedoch nicht ausreichen, um das Vertrauen der Bevölkerung zurückerlangen zu können.

Macron begibt sich auf dünnes Eis, wenn er nun wie angekündigt weiter reformieren und dabei drei große Themenblöcke angehen will: Arbeit, Justiz sowie republikanische und demokratische Ordnung und öffentlicher Dienst inklusive Schulsystem und Gesundheit. Seine Pläne, deren grobe Linien Premierministerin Élisabeth Borne am 26. April vorstellen will, dürften auf neuen Widerstand treffen – vor allem die Reform der Sozialhilfe RSA (Revenu de Solidarité Active) und Einsparungen bei den öffentlichen Ausgaben. Denn das Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit sitzt tief, verstärkt durch die Meinungsmache der Populisten, die in Frankreich inzwischen den Ton angeben. Ihnen ist es gelungen, von Macron auf den Weg gebrachte Maßnahmen zur Abfederung der Inflation wie Strom- und Gaspreisdeckel vergessen zu machen. Die Inflation fällt deshalb in Frankreich mit um die 6% niedriger als in vielen Nachbarländern aus. Allerdings liegt der Preisanstieg gängiger Konsumprodukte, allen voran der von Lebensmitteln, eher bei 15%. Trotz des Inflationsausgleichs bei Löhnen ist der Verlust der Kaufkraft deshalb deutlich zu spüren und droht sich zu verstärken.

Bis 2027 die Vollbeschäftigung zu erreichen, lautet nun eines der Ziele Macrons. Seit seiner Wahl 2017 ist es ihm bereits gelungen, die Arbeitslosenquote von 9,3%, die Übersee-Départements nicht mitgerechnet, auf zuletzt 7% zu senken, den niedrigsten Stand seit 2007/08. Um sie bis 2027 auf 5% zu reduzieren, müssten in den nächsten vier Jahren 700.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Ein ehrgeiziges Ziel, wenn man bedenkt, dass die Firmenpleiten seit dem Wegfall der massiven Coronahilfen wieder stark gestiegen sind, vor allem im Einzelhandel, dem Baugewerbe und der Gastronomie. Sie waren 2021 auf einen ungewöhnlich niedrigen Stand gefallen.

Mit der Verabschiedung der Rentenreform ist die Arbeit für Macron also noch längst nicht getan. Im Gegenteil. Denn er muss nun nicht nur das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen, um dem rechtsextremen Rassemblement National nicht den Weg zu ebnen und weiter reformieren zu können. Er muss auch das Problem der Senioren-Arbeitslosigkeit angehen. Denn die Anhebung des Renteneintrittsalters hilft wenig, wenn die Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen weiter so niedrig bleibt wie jetzt.