Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg
Seit Ende der 1980er-Jahre wird der Tag der Arbeit in Berlin vor allem mit Krawallen der linken Szene im Stadtteil Kreuzberg in Verbindung gebracht. Über Jahrzehnte lieferte sich die autonome Szene am 1. Mai im alten Berliner Postzustellbezirk Südost 36 Straßenschlachten mit der Polizei. Mit die schwersten Krawalle gab es 1987, als ein Supermarkt am Görlitzer Bahnhof geplündert und anschließend angezündet wurde, während sich die Polizei zeitweise ganz aus dem „SO36“ zurückzog. In den vergangenen Jahren ist es gelungen, Ausschreitungen im Rahmen der „Revolutionären 1.Mai Demonstration“ mit alternativen Veranstaltungsformaten wie dem Kreuzberger Straßenfest „Myfest“ einzudämmen. Der Tag der Arbeit habe sich seither „von einem Fest der Zerstörung in ein Fest des Hedonismus“ gewandelt, schreiben die Autoren des Stadtmagazins „Tip Berlin“.
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Während in Kreuzberg mittlerweile Deeskalation großgeschrieben wird, hat sich der Berliner Nobelbezirk Grunewald dank der Initiative „Quartiersmanagement Grunewald“ zum Problembezirk gemausert. Unter dem Motto „Heraus zum Tag der sozialen Arbeit – den Problemkiez abholen!“, lädt die Sektion der „Hedonistischen Internationale“ auch in diesem Jahr zu einer Fahrradsternfahrt in das Villenviertel. „Klingeling, Hausbesuch beim Kapital!“, lautet der satirische Marschbefehl. „Es wird Zeit, dass die Grunewalder:innen die Umverteilung ihres Vermögens auf die Kette kriegen“, fordern die Initiatoren. Seit 2018, als das Quartiersmanagement die erste Sternfahrt zum 1. Mai organisierte, haben die Demonstranten den Nobelbezirk mit Slogans wie „Ich hätte auch gerne einen Vorgarten“, „Wo eine Villa ist, da ist auch ein Weg!“ oder „Suche Elite-Partner“ zum Nachdenken gebracht. Unter der Rubrik „FAQ“ wird online auch die Frage „Wir sind am 1.5. in unserem Haus auf Sylt. Kann die Fahrrad-Tour nicht an einem anderen Tag stattfinden?“ beantwortet.
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Demos im Grunewald haben beim Kreuzberger Publikum Tradition. Auf dem Höhepunkt der Hausbesetzerbewegung gab es zwei große Demonstrationen der Szene im Villenviertel, die 1981 und 1989 jeweils von Zusammenstößen mit der Polizei begleitet wurden. Ende der 1990er-Jahre zog das „Netzwerk Innenstadtaktion“ als Protest gegen Gentrifizierung in den Nobelbezirk und skandierte „Sprengt doch den Rasen“. Im Herbst 2002 spazierte die „Initiative Bankenskandal“ vor die Villen von Bankmanagern. Im Sommer 2017 zogen Demonstranten vor den Sitz einer Immobiliengesellschaft in Grunewald, um ihr die Zwangsräumung eines Spätis in Kreuzberg auszureden. Im Jahr darauf mobilisierte die Hedonistische Internationale am 1. Mai rund 5000 Demonstranten. Die Polizei stellte 72-mal Landfriedensbruch fest, weshalb die Veranstalter die Sternfahrt auch als „Härteste revolutionäre Satiredemo der Welt“ verstehen.