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Der Modell-Eisenbahner

Von Walther Becker, Frankfurt Börsen-Zeitung, 31.10.2018 Hätte so mancher wegen Verspätungen oder ausgefallener Züge verärgerter Bahnkunde den Konzernchef Dr. Richard Lutz zum Ansprechpartner - er würde wahrscheinlich trotz aller Mängel mehr...

Der Modell-Eisenbahner

Von Walther Becker, FrankfurtHätte so mancher wegen Verspätungen oder ausgefallener Züge verärgerter Bahnkunde den Konzernchef Dr. Richard Lutz zum Ansprechpartner – er würde wahrscheinlich trotz aller Mängel mehr Verständnis für den Konzern aufbringen, der mit gruppenweit 310 000 Beschäftigten im Personenverkehr über zwölf Millionen Leute pro Tag befördert und im Jahr 300 Millionen Tonnen Güter auf der Schiene und 100 Millionen Sendungen auf der Straße transportiert. Denn Lutz verleugnet keine Probleme, der 54-Jährige kann aber erklären, wie sie entstehen und wie sich die Qualität bessern ließe – und das auf eine unaufgeregte, sympathische Art, ohne zu poltern oder anzugreifen. Er vermittelt Begeisterung, kann aber mit seinen Vorstandskollegen auch einen Brandbrief schreiben wie im September. Die schonungslose Predigt an die Belegschaft wird in Berlin allerdings auch als das verstanden, was sie ist: als Appell an den Eigentümer Staat.Nahezu jeder Bundesbürger kann etwas über seine Bahnerfahrungen erzählen – und meistens klagen. Lutz selbst kommt im Übrigen kaum wegen der Verbindungen zu spät zur Arbeit, wohnt er doch mit seiner Frau gerade 700 Meter entfernt vom Bahn-Tower in der Hauptstadt. Dass die Zukunft nicht dem Individualverkehr auf der Straße gehört, sondern der Vernetzung, weiß Lutz aus der eigenen Familie. Von seinen drei erwachsenen Kindern hat das jüngste erst gar keinen Führerschein gemacht, das zweite den Opel Corsa wieder verkauft und nur das älteste fährt noch. Lutz schweben Verbindungen mit Carsharing- oder Mobilitätsdienstleistern auf einer gemeinsamen Plattform vor. Seit 24 Jahren schon ist der promovierte Betriebswirt im Unternehmen und wirkt trotz aller Trägheiten im System unverbraucht und frisch. Dabei ist dieses Modell eines Eisenbahners heute unter den Lenkern großer deutscher Konzerne sicher einer der am wenigsten bekannteste Manager – anders als seine beiden Vorgänger Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube, die beide im Streit geschieden waren. Schließlich ist er anders als diese beiden, die vorher bei Airbus bzw. Daimler waren, ein Eigengewächs der Bahn. Der in Landstuhl geborene Lutz ist seit 1994, dem Jahr der Bahnreform, für den Schienenriesen tätig. Er baut gerne Brücken, etwa die von der Gegenwart, in der der Konzern an Kapazitätsgrenzen in Infrastruktur, bei Fahrzeugen und Personal stößt, hin zur goldenen Zukunft, in der die Bahn mit ihrem Beitrag für Klima und Umwelt als der Verkehrsträger des 21. Jahrhunderts eine ganz andere Rolle spielt und auf die sie sich auch mit Digitalisierung vorbereitet. Oder die Brücken zwischen Wirtschaft und Politik. Lutz verkauft keine Rezepte, sagt der Politik aber mit einnehmendem Wesen: Wenn der Staat etwas will, muss er auch die Mittel dafür in die Hand nehmen. Und wenn er das nicht will, eventuell dem Verkauf von Minderheitsanteilen an Tochtergesellschaften zustimmen.Jetzt würden die Weichen gestellt, betont er auch in Richtung des Eigentümers in Berlin. Er kennt den Laden in den er eintrat, als Heinz Dürr Vorstandschef war, und hat mit Alexander Doll, der 2019 seine Rolle als CFO übernimmt, einen erfahrenen Investmentbanker an seiner Seite. 2003 übernahm Lutz unter Mehdorn das Konzerncontrolling, 2010 rückte er als Nachfolger des legendären Finanzvorstands Diethelm Sack in den von Grube geführten Vorstand und wurde im März 2017 selbst CEO, als Grube im Knatsch ausschied. Er habe sich nicht nach dem Amt gedrängt, sagt er.Lutz stammt aus einer Eisenbahnerfamilie – Mutter, Vater, Onkel, Cousin und die Schwester waren zumindest zeitweise bei der Bahn. In seiner Jugend war er einer der besten Nachwuchsschachspieler Deutschlands. Klare Gedankenführung und das Überlegen, wer welchen Zug macht oder machen könnte, hilft in den Verhandlungen mit Bund, den Regionen, Gemeinden, Gewerkschaften und Kundenvertretern, wo es darauf ankommt geschmeidig Interessen zu vertreten.