Prothesenhersteller

Ottobock-Lenker strebt an die Börse

Es könnte in Deutschland einer der größten Börsengänge im kommenden Jahr werden – kursieren doch Schätzungen, die Ottobock eine Bewertung von mehr als 6 Mrd. Euro zuschreiben. Sollten die Umfeldbedingungen mitspielen, deutet sich ein „Going-public“...

Ottobock-Lenker strebt an die Börse

Von Carsten Steevens, Hamburg

Es könnte in Deutschland einer der größten Börsengänge im kommenden Jahr werden – kursieren doch Schätzungen, die Ottobock eine Bewertung von mehr als 6 Mrd. Euro zuschreiben. Sollten die Umfeldbedingungen mitspielen, deutet sich ein „Going-public“ des Medizintechnikunternehmens aus Duderstadt im ersten Halbjahr 2022 an. Wie vor einigen Wochen durchsickerte, wurden Deutsche Bank, Goldman Sachs sowie BNP Paribas bereits als globale Koordinatoren mandatiert.

Für den kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs entstandenen Prothesenhersteller wäre das IPO eine wichtige Wegmarke. Ottobock könnte mit dem Kapital großer Pensions- und Investmentfonds oder Familiy Offices das in den vergangenen drei Jahrzehnten beschleunigte organische und anorganische Wachstum langfristig fortsetzen. Die Aktie wäre als Währung bei weiteren Zukäufen einsetzbar.

Einschnitt

Um kapitalmarktfähig zu werden, mussten Strukturen professionalisiert werden – nicht zuletzt im Interesse der Inhaberfamilie Näder, für die die Rolle des Shareholders künftig noch bedeutsamer werden dürfte. Diese Professionalisierung forcierte Hans Georg Näder, der 1990 im Alter von 28 Jahren die Verantwortung für die Geschicke des von seinem Großvater gegründeten Unternehmens übernommen hatte, 2017 mit der Öffnung für den ersten familienfremden Investor. Die 20-prozentige Beteiligung der schwedischen Private-Equity-Gesellschaft EQT 98 Jahre nach dem Start von Ottobock könnte als noch größerer Einschnitt in der Unternehmensgeschichte gelten.

Inzwischen haben sich nicht nur die Umsatzerlöse des Unternehmens verglichen mit dem Jahr von Näders Antritt auf über 1 Mrd. Euro mehr als verzehnfacht und die Mitarbeiterzahl auf über 8000 verachtfacht. Mittlerweile tritt Ottobock mit der Rechtsform der SE & Co. KGaA auf, das Tagesgeschäft der operativen Führung von Ottobock liegt in den Händen eines Managements um CEO Philipp Schulte-Noelle. Für das oberste Entscheidungsgremium, den von Näder angeführten Verwaltungsrat, wurde in diesem Jahr der frühere Beiersdorf-Chef Stefan Heidenreich als stellvertretender Vorsitzender gewonnen. Die professionelle Kontrolle wurde verstärkt. Dem Börsengang würde zudem noch die Umstellung der Bilanzierung auf den IFRS-Rechnungslegungsstandard vorangehen.

Gestaltungsdrang

Er habe das Unternehmen in der Struktur und im Plan zukunftsfest gemacht, heißt es über Näder. Der Vergangenheit von Ottobock sei er sich bewusst – schließlich gründe seine Leidenschaft für das Unternehmen auf Erfahrungen von Kindesbeinen an, was Erfindergeist und Hilfen durch Prothesen und andere Produkte für das Leben von Menschen bedeuten können. Doch gilt Näders Interesse vor allem Perspektiven. „Futuring Human Mobility“ betitelte er sein Buch, das 2019 zum 100-jährigen Jubiläum von Ottobock er­schien und sich mit Entwicklungen menschlicher Mobilität auseinandersetzt, mit der Rolle von Digitali­sierung, künstlicher Intelligenz, Cyborgs und Robotik für die Zukunft des Menschen und seines Körpers.

Mit den Töchtern Georgia Näder (Jahrgang 1997), die dem Ottobock-Aufsichtsrat angehört, sowie Julia Näder (1990), die sich um das Stiftungsengagement (Ottobock Global Foundation) kümmert, steht die vierte Familiengeneration bereit. Dass Näder aber offenbar noch viel Lust verspürt, die Geschicke des deutschen Weltmarktführers in der Prothetik als Taktgeber, als Technologie- und Talent-Scout weiterhin selbst zu bestimmen, liegt an der Erwartung, dass Ottobock die spannendsten Kapitel seiner Geschichte noch vor sich habe. Menschliche Einschränkungen dürften sich in der kommenden Dekade durch Innovationen bei Materialien, Digitalisierung und künstliche Intelligenz besser ausgleichen, Prothesen so intuitiv steuern lassen wie nie zuvor, so die Annahme.

Inspiration für sein Unternehmen, das im Auftrag des Internationalen Paralympischen Komitees mit einem Team von 106 Technikern bei den noch bis Sonntag in Tokio stattfindenden Paralympischen Spielen Rollstühle, Orthesen, Prothesen und andere Hilfsmittel der Athleten kostenfrei wartet und repariert, verschafft sich der sozial engagierte, liberal-konservativ eingestellte Unternehmer Näder auf Reisen und durch weitere Interessen. Der Honorarprofessor an der Privaten Fachhochschule Göttingen und Kunstsammler betreibt unter anderem über die Familienholding die finnische Schiffswerft Baltic Yachts und ist als Hochseesegler unterwegs. Für Joachim Kreuzburg, Vorstandschef des in Göttingen ansässigen Biopharmazulieferers Sartorius und Mitglied im Ottobock-Verwaltungsrat, ist Näder „ein Menschen-, Meer- und Kunstfreund und in erster Linie ein immer vorwärtsdenkender Unternehmer“. In einer griechischen Mittelmeerbucht feiert der Ottobock-Lenker am morgigen Sonnabend seinen 60. Geburtstag.

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