Politische Karrieren

Sprungbrett Europa

Sven Giegold, Carsten Pillath, Roberto Gualtieri, Nadia Calvino - immer häufiger wechseln Europaparlamentarier oder EU-Generaldirektoren in Schlüsselpositionen der nationalen Finanz- und Wirtschaftspolitik.

Sprungbrett Europa

Von Detlef Fechtner, Frankfurt

Es gab eine Zeit, da wurden Europaparlamentarier und EU-Kommissare mit Spott bedacht, weil eine Entsendung nach Brüssel oder Straßburg als sicheres Zeichen dafür gewertet wurde, dass jemand den Zenit seiner politischen Karriere überschritten hatte: Hast du einen Opa – schick ihn nach Europa! Aber wahrscheinlich erinnern sich nur noch die Älteren an solche Schmähungen gegenüber politischen Berufseuropäern. Denn längst ist die Bedeutung des EU-Machtzen­trums aner­kannt – und längst gelten weder das EU-Parlament noch das Berlaymont, also das Hauptquartier der EU-Kom­mission in Brüssel, als Ab­schiebebahnhöfe. Ganz im Gegenteil: Europäische Posten sind zum Sprungbrett geworden, um in die erste oder zweite Reihe in Berlin, Paris oder Madrid zu wechseln.

EU-Erfahrung im Ministerium

So sind im Zuge der Regierungsbildung in Berlin zwei der wichtigsten Staatssekretärsposten an zentrale Akteure der EU-Gesetzgebung vergeben worden. Der ehemalige grüne Europaabgeordnete Sven Giegold wird Staatssekretär in dem von Robert Habeck geführten Wirtschafts- und Klimaschutzministerium. Der 52-jährige,  einst einem größeren Publikum bekannt geworden als Mitbegründer des globalisierungskritischen Netzwerks Attac, hatte zwölf Jahre lang maßgeblichen Einfluss auf die finanzpolitischen Positionen seiner Fraktion im EU-Parla­ment – egal ob es um Kapitalanforderungen, Einlagensicherung oder Vertriebsprovisionen ging. Bei der Novelle der Fondsrichtlinie Ucits vertrat er sogar das EU-Parlament federführend im Trilog. Habeck holt sich mit Giegold daher jemand in seine Reihen, der alle wichtigen Dossiers der EU-Finanzregulierung aus nächster Nähe kennt – auch diejenigen, die noch national umgesetzt werden müssen.

Bundesfinanzminister Christian Lindner hat sich ebenfalls europäische Expertise aus erster Hand gesichert. Carsten Pillath übernimmt den Posten, den unter der Vorgängerregierung Jörg Kukies innehatte. Er wird im Bundesfinanzministerium Staatssekretär für Internationales, Finanzmarktpolitik und – na klar! – Europa. 13 Jahre lang war Pillath Generaldirektor Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit im Generalsekretariat des EU-Ministerrats – eine der Schlüsselpositionen, denn Pillath agierte über viele Jahre als rechte Hand des jeweiligen Vorsitzenden des Finanzministerrats oder der Eurogruppe.

Die Bundesregierung ist, was die Rekrutierung von Aktivposten aus EU-Parlament, EU-Ministerrat oder EU-Kommission angeht, dabei freilich kein Einzelfall. Roberto Gualtieri machte fünf Jahre lang als Vorsitzender des Wirtschafts- und Währungsausschusses des EU-Parlaments auf sich aufmerksam, bevor er unter der Regierung Conte II vor zwei Jahren zum Wirtschafts- und Finanzminister Italiens berufen wurde. Der 55-jährige Sozialdemokrat hat dieses Jahr übrigens erneut den Posten eingetauscht – für das prestigeträchtige Amt des Bürgermeisters seiner Heimatstadt Rom.

Bereits 2018 holte Spaniens Premier Pedro Sánchez eine ebenfalls erfahrene Europäerin als Wirtschaftsministerin in sein Kabinett: Nadia Calviño. Die 53-jährige Ökonomin hatte zuvor 12 Jahre lang in den Generaldirektionen Wettbewerb, Binnenmarkt und Haushalt der EU-Kommission in führenden Positionen gearbeitet – und dürfte zu den am besten vernetzten Kommissionsbeamtinnen gehört haben.

Die Französin Sylvie Goulard wiederum heuerte 2018 als Vizepräsidentin der Banque de France an, nachdem sie acht Jahre lang die auffälligste Vertreterin der Liberalen in Finanz- und Wirtschaftsfragen im EU-Parlament gewesen war. Apropos Notenbanken: Auch im Vorstand der Deutschen Bundesbank gibt es mittlerweile zwei Mitglieder mit ausgewiesener europäischer Erfahrung. Der für Bankenaufsicht zuständige Joachim Wuermeling gehörte dem EU-Parlament ebenso an wie der in Sachen Zahlungsverkehr federführende Burkhard Balz. Der 52-jährige Christdemokrat, der anders als Wuermeling auch noch nach der Finanzkrise im EU-Parlament saß, kennt dabei die genannten Gualtieris,  Goulards und Giegolds noch unmittelbar aus vielen gemeinsamen Sitzungen des Währungsausschusses. Balz wird sich zudem  gut an Elisa Ferreira erinnern, die ebenfalls im EU-Parlament in Finanzfragen kräftig mitmischte, bevor sie 2016 zur portugiesischen Notenbank wechselte und ein Jahr später deren Vizegouverneurin wurde.

Retour nach Brüssel

Allerdings hing sie diesen Spitzenposten bei der Banco de Portugal 2019 wieder an den Nagel – um zurück nach Brüssel zu gehen, als EU-Regionalkommissarin. Ähnlich wie Mario Nava, lange Jahre zentrale Figur der Finanzmarktregulierung in der EU-Kommission und einst federführend mit der Übersetzung von Basel III in EU-Recht befasst. Der 55-jährige Italiener wurde 2018 an die Spitze der Finanzaufsicht Consob berufen. Nach einem Clinch mit der damals neu ins Amt gelangten italienischen Regierung  kehrte Nava wieder in die EU-Kommission zurück – und hat dort seither abermals eine Schlüsselrolle bei bedeutenden finanzpolitischen Vorhaben, etwa dem Aktionsplan Green Finance, inne. Was beweist: In einigen Fällen geht die berufliche Reise auch wieder retour nach Brüssel.

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