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Staatsanwaltschaft klagt VW-Spitze an

Von Carsten Steevens, Hamburg Börsen-Zeitung, 25.9.2019 Die Staatsanwaltschaft Braunschweig klagt die Spitze des Volkswagen-Konzerns im Zusammenhang mit dem Dieselabgasskandal wegen Marktmanipulation an. Die Ermittler werfen dem langjährigen...

Staatsanwaltschaft klagt VW-Spitze an

Von Carsten Steevens, HamburgDie Staatsanwaltschaft Braunschweig klagt die Spitze des Volkswagen-Konzerns im Zusammenhang mit dem Dieselabgasskandal wegen Marktmanipulation an. Die Ermittler werfen dem langjährigen Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch (68), der kurz nach Bekanntwerden der Abgasmanipulationen im Oktober 2015 den Aufsichtsratsvorsitz bei VW übernahm, dem Anfang Juli zu VW gewechselten heutigen Vorstandsvorsitzenden Herbert Diess (60) sowie dem nach Aufdeckung des Skandals in den USA zurückgetretenen Konzernchef Martin Winterkorn (72) Verstoß gegen kapitalmarktrechtliche Publizitätspflichten vor. Vorsätzlich zu spät informiert? Die drei Beschuldigten hätten, so die Behörde, “vorsätzlich zu spät” über die aus dem Bekanntwerden des Abgasskandals resultierenden erheblichen Zahlungsverpflichtungen des Konzerns in Milliardenhöhe informiert. Damit hätten sie rechtswidrig Einfluss auf den Börsenkurs des Unternehmens genommen. Ob es zu einem Prozess gegen die Top-Manager kommen wird, muss gerichtlich entschieden werden. Das Aufsichtsratspräsidium des Wolfsburger Autobauers, das nach Bekanntgabe der Anklageerhebung gestern Mittag in einer Telefonkonferenz zusammenkam, entschied, dass Diess und Pötsch auf ihren Posten bleiben sollen. Heute will sich das gesamte Kontrollgremium zu einer außerordentlichen Sitzung treffen.Es sei auf Grundlage umfangreicher und unabhängiger eigener Untersuchungen seit Herbst 2015 “auch aus heutiger Sicht weiterhin keine vorsätzlich unterlassene Information des Kapitalmarkts” zu erkennen, erklärte das Aufsichtsratspräsidium in einer Mitteilung am Nachmittag. Die erheblichen Kursverluste der VW-Aktie nach Veröffentlichung der sogenannten “Notice of Violation” am 18. September 2015 seien darauf zurückzuführen, dass die US-Behörden ihre Vorwürfe während laufender Gespräche mit Volkswagen völlig unerwartet veröffentlicht hätten. Der VW-Vorstand habe diesen Wechsel im Vorgehen der US-Behörden nicht vorhersehen können. Zudem verwies das Aufsichtsratspräsidium darauf, dass sich der Vorstand auch auf die rechtliche Beratung der US-Kanzlei Kirkland & Ellis verlassen durfte. Auf Basis dieser Beratung sei bis zur Veröffentlichung der “Notice of Violation” davon auszugehen gewesen, dass – wie in der Praxis bis dahin üblich – zunächst eine einvernehmliche Lösung mit den US-Behörden erarbeitet und diese dann in einer gemeinsamen Stellungnahme publik gemacht werden würde. Dem VW-Vorstand hätten nach vorliegenden Erkenntnissen vor Veröffentlichung der “Notice of Violation” keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte vorgelegen, die eine sofortige Information des Kapitalmarkts erforderlich gemacht hätten. Aus diesem Grund, so das Aufsichtsratspräsidium, solle die “erfolgreiche Zusammenarbeit” mit dem Aufsichtsrats- und mit dem Vorstandsvorsitzenden fortgesetzt werden.Die Staatsanwaltschaft erklärte, in der 636 Seiten langen Anklageschrift davon auszugehen, dass Winterkorn spätestens seit Mai 2015, Pötsch seit dem 29. Juni 2015 und Diess seit dem 27. Juli 2015 jeweils vollständige Kenntnis von den Sachverhalten und den sich daraus ergebenden erheblichen Schadensfolgen hatten. Jeder für sich hätte ab jenem Zeitpunkt die erforderliche Ad-hoc-Mitteilung veranlassen müssen, was nicht geschehen sei. Stattdessen habe man die Strategie verfolgt, ohne Offenlegung aller relevanten Umstände mit den US-Behörden einen Vergleich zu erzielen, in dem in der Wortwahl zwar von technischen Problemen, nicht aber von einem Betrug gegenüber Behörden und Kunden die Rede sein sollte. Zu einem solchen Vergleich sei es nicht gekommen, was angesichts der Verärgerung der US-Behörden über die bis dahin von VW praktizierte Hinhaltetaktik auch zu erwarten gewesen sei. Kann Diess sich halten?Die VW-Vorzugsaktie rutschte nach Mitteilung der Anklageerhebung am Mittag um bis zu 3 % ab, ehe sie den Xetra-Handel mit einem Minus von 2,2 % bei 153,20 Euro verließ. Der Corporate-Governance-Experte Christian Strenger, der auf VW-Hauptversammlungen der vergangenen Jahre wiederholt Fehlverhalten bei der Aufarbeitung des Dieselskandals und Interessenkonflikte moniert hatte, bezeichnete es “angesichts der intensiven Evidenz” – der internen Sitzung mit Diess am 27. Juli 2015 mit Diskussion der potenziellen Strafzahlungen in Milliardenhöhe, der auf inkorrekter Sachlagenschilderung basierenden Kirkland-&- Ellis-Gutachten und des Eingeständnisses von VW-Managern gegenüber der der US-Umweltbehörde EPA am 3. September 2015 – als “sehr wahrscheinlich”, dass die Anklage gerichtlich zugelassen werde. “Dann sollten sich Diess und Pötsch schon aufgrund der zeitlichen Belastung, aber auch der Öffentlichkeitswirkung zumindest beurlauben lassen”, so Strenger.Der Anwalt von Winterkorn – gegen diesen und weitere vier Führungskräfte von VW erhob die Staatsanwaltschaft Braunschweig im April Anklage wegen schweren Betrugs und Verstoßes gegen das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb – wies den Vorwurf der Marktmanipulation ebenso zurück wie Anwälte von Vorstandschef Diess. Die Anklage werde Diess in Bezug auf seine Verantwortung als Vorstandsvorsitzender nicht einschränken, hieß es in einer Mitteilung der Dortmunder Kanzlei Park. Weder die Fakten- noch die Rechtslage rechtfertigten den Vorwurf der Marktmanipulation. Diess, der den VW-Konzern auf Elektromobilität und andere Zukunftstechnologien umstellen will, hatte Anfang Juli 2015 zunächst den Posten des Vorstandsvorsitzenden der Kernmarke VW Pkw übernommen.Die Dieselabgasaffäre hat den VW-Konzern vor allem im Zuge von Vergleichsvereinbarungen in Nordamerika bislang rund 30 Mrd. Euro gekostet. Im Kapitalanleger-Musterverfahren am Oberlandesgericht Braunschweig, das vor gut einem Jahr eröffnet wurde, streiten Anleger wegen Kursverlusten und des monierten Verstoßes gegen Publizitätspflichten um Schadenersatzforderungen in Milliardenhöhe.