GastbeitragKünstliche Intelligenz

Earnings Calls, Pressearbeit und die Verwendung von KI im Fokus der Kartellbehörden

Die EU-Kommission fokussiert verstärkt auf Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern als Kartellverstoß. Unternehmen sollten ihre Kommunikationspraktiken überprüfen.

Earnings Calls, Pressearbeit und die Verwendung von KI im Fokus der Kartellbehörden

Falsche Signale im Kartellrecht

Von Dominic Divivier *)

Die EU-Kommission und andere Kartellbehörden haben in letzter Zeit den „bloßen“ Austausch sensibler Informationen zwischen Wettbewerbern als eigenständigen Kartellverstoß für sich entdeckt. Was abstrakt klingt, kann sehr konkrete, unangenehme Folgen haben. Für Unternehmen, die hierfür nicht ausreichend sensibilisiert sind, aber auch Vorstände, Presse- und Investor-Relations-Abteilungen und alle anderen, die für Unternehmen öffentlich kommunizieren. Denn innerhalb des weiten Felds des unzulässigen Informationsaustauschs nehmen Behörden zunehmend Fälle des sog. „Signallings“ in den Blick. Der Vorwurf lautet: Unternehmen sollen mit ihren Wettbewerbern sensible Informationen ausgetauscht haben, etwa zu strategischen Initiativen, Forschungs- und Entwicklungsvorhaben, Kostensteigerungen, Preisänderungen oder Produktionsmengen. Das aber nicht „verdeckt im Hinterzimmer“, sondern per öffentliche Äußerungen, z.B. in Interviews, Earnings Calls, Pressekonferenzen, Diskussionsrunden bei Veranstaltungen von Branchenverbänden oder den sozialen Medien.

Fragen als Kartellverstoß?

Die EU-Kommission berichtete kürzlich, in einem laufenden Verfahren mithilfe von KI „Hunderttausende Earnings Calls“ analysiert zu haben, und nannte das Thema Informationsaustausch im Allgemeinen und „Signalling“ im Besonderen als aktuelle Prioritäten bei der Kartellverfolgung. Und zwar gerade auch dann, wenn es keine Anhaltspunkte für zusätzliche Verstöße wie Preisabsprachen oder Kunden- oder Marktaufteilungen gibt. Unternehmen empfahl sie, ihre Schulungs- und Compliance-Programme entsprechend nachzuschärfen und ihre aktuelle Kommunikationspraxis zu überprüfen.

Doch das ist leichter gesagt als getan. In Fachkreisen wurde schon länger diskutiert, wo genau etwa in gesetzlich vorgeschriebenen und branchenübliche Formaten wie Earnings Calls die Grenzen zwischen kartellrechtswidrigem „Signalling“ und der kartellrechtskonformen Beantwortung von Fragen von Investoren, Analysten oder Journalisten zur Strategie des Unternehmens liegen (sollten). Jenseits einiger allgemeiner Grundsätze und der begrenzten Guidance in den sog. „Horizontalleitlinien“ der EU-Kommission steckt der Teufel hier aber schnell im Detail – insbesondere, wenn es darum geht, handhabbare Lösungen zu entwickeln, die Unternehmen kartellrechtlich schützen, aber auch dem Informationsbedürfnis von Investoren, Analysten und der breiteren Öffentlichkeit Rechnung tragen. Ganz konkret: Wann und wie bzw. was können Vorstände z.B. auf Fragen nach der Preis- und Kostenentwicklung, der geopolitischen Lage oder strategisch wichtigen Projekten, etwa in den Bereichen Nachhaltigkeit oder Forschung und Entwicklung, antworten? Müssen sie gar auf öffentliche Aussagen ihrer Wettbewerber zu diesen Themen proaktiv reagieren – im Sinne von „wir entscheiden das schon noch selbst und empfehlen, sich solcher Aussagen in der Öffentlichkeit zu enthalten“? Wann müssen sie also selbst auf kartellrechtliche Grenzen verweisen oder können – in der nicht immer ganz einfachen Sprache des Kartellrechts formuliert – nur „ausreichend aggregierte Informationen“ teilen? Wie soll all das ganz praktisch funktionieren, wenn Investoren und Analysten in kurzer Zeit eine Vielzahl an Fragen stellen können sollen, zu denen sie spontane Antworten des Managements erwarten (dürfen)? Was etwa tun, wenn Analysten sagen, sie könnten das Unternehmen ohne die verlangten Informationen nicht bewerten?

Eine abschließende Entscheidung der EU-Kommission oder der europäischen Gerichte gibt es bislang weder zu diesen so wichtigen Praxisfragen noch zu relevanten Details des kartellrechtlichen Maßstabs. Das könnte sich mit einem aktuellen Fall ändern, in dem die EU-Kommission den Vorwurf untersucht, dass mehrere Reifenhersteller angeblich mittels öffentlicher Kommunikationswege – insbesondere Earnings Calls – sensible Informationen ausgetauscht haben sollen. Der französische Reifenhersteller Michelin bestreitet die kartellrechtliche Relevanz seiner öffentlichen Äußerungen und klagt u.a. deshalb vor dem Gericht der Europäischen Union in der Rechtssache T-188/24 gegen die Entscheidung, auf die die EU-Kommission ihre Durchsuchung (sog. Dawn Raid) bei Michelin gestützt hatte. Sollte das Gericht und im Zweifel auch der Europäische Gerichtshof der Argumentation der EU-Kommission folgen, hätte dies weitreichende Folgen nicht nur für börsennotierte Unternehmen, sondern für alle, die (auch) öffentlich zu ihren geschäftlichen Erwartungen kommunizieren. 

Unabhängig vom konkreten Ausgang der Behörden- und Gerichtsverfahren in dieser Sache ist zu erwarten, dass Kartellbehörden das Thema Informationsaustausch im Blick behalten werden. Anders als Kartelle „im Hinterzimmer“, zu deren Aufdeckung Behörden regelmäßig auf Kronzeugenmitteilungen beteiligter Unternehmen angewiesen sind, können Behörden vermeintlich illegalen Informationsaustausch teils vom eigenen Schreibtisch aus ermitteln. Sei es durch händisches oder KI-basiertes Durchforsten öffentlich verfügbarer Informationen oder die Anforderung interner Unterlagen im Rahmen von Fusionskontrollverfahren, etwa dazu, welcher potenzielle Erwerber wann welche sensiblen Informationen über das mit ihm in Wettbewerb stehende Zielunternehmen erhalten hat und welche Maßnahmen ergriffen wurden, um diesen Prozess kartellrechtskonform auszugestalten.

Fallstricke bei Verwendung von KI

Aber damit nicht genug. Im digitalen Zeitalter kann auch die Verwendung von Preisalgorithmen und KI durch Unternehmen aus Sicht der Behörden schnell zu „algorithmic collusion“ oder kartellrechtswidrigem Informationsaustausch führen, etwa wenn Wettbewerber ihre sensiblen Daten mit denselben Plattformen teilen oder Empfehlungen derselben Algorithmen umsetzen. Von einfachen Preis-Bots bis hin zu hoch entwickelter selbstlernender KI untersuchen Behörden derzeit genau, wie Algorithmen mehr oder weniger unbeabsichtigte Absprachen zwischen Unternehmen ermöglichen können, wenn sie nicht ordnungsgemäß konzipiert und überwacht werden. In den USA haben das Justizministerium, aber auch diverse Generalstaatsanwälte und Unternehmen Klagen mit verschiedenen kartellrechtlichen Schadenstheorien erhoben, sowohl gegen Anbieter von Preisalgorithmen als auch deren Nutzer in der Krankenversicherungs-, Immobilien-, Hotel- und Technologiebranche.

Erst kürzlich hat die neue US-Regierung in einem der besagten Zivilverfahren per „statement of interest“ klargestellt, dass ihres Erachtens der aus der gemeinsamen Verwendung eines Preisalgorithmus resultierende Informationsaustausch genauso kartellrechtswidrig sein kann wie die Verwendung desselben Preisalgorithmus zur Festlegung von Start- oder Höchstpreisen. Die Federal Trade Commission ermittelt parallel, wie genau Algorithmen welche Daten für das sogenannte „surveillance pricing“ verwenden, mithilfe dessen Unternehmen teils die Preise ihrer Waren und Dienstleistungen für einzelne Verbraucher anpassen.

Kartellrechts-Compliance 2.0

Angesichts all dessen sind Unternehmen gut beraten, wie von der EU-Kommission empfohlen, ihre Kommunikationspraxis und ihre Verwendung von KI-Anwendungen zu wettbewerblich sensiblen Themen zu überprüfen und bei Bedarf ihre kartellrechtlichen Compliance-Programme nachzuschärfen. Bis einige dieser Praxisfragen durch die genannten Behörden- und Gerichtsverfahren geklärt sind, werden viele Unternehmen einen vorsichtigeren Ansatz wählen (müssen), wenn sie das Risiko vermeiden wollen, ins Fadenkreuz der Behörden zu geraten oder gar ein Bußgeld auferlegt zu bekommen, das bis zu 10% des weltweiten Konzernumsatzes betragen kann. Dieser „chilling effect“ ist ganz im Sinne der Behörden, von denen auch künftig keine detaillierte Guidance zu all den Praxisfragen zu erwarten ist, die auch nach Abschluss der genannten Verfahren offenbleiben werden.

*) Dr. Dominic Divivier ist Partner bei Freshfields.

Earnings Calls, Pressearbeit und die Verwendung von KI im Fokus der Kartellbehörden

*) Dr. Dominic Divivier ist Partner bei Freshfields.