Gastbeitrag

Barrierefreiheit stellt auch Banken vor Herausforderungen

In Europa gelten ab 28.06. erstmals für die Wirtschaft Barrierefreiheitsanforderungen für digitale Produkte und Dienstleistungen. Die Anforderungen gelten beispielsweise für jede Internetpräsenz und für jede App.

Barrierefreiheit stellt auch Banken vor Herausforderungen

Barrierefreiheit stellt Banken vor Herausforderungen

Neues Gesetz mit Fokus auf digitale Produkte tritt unmittelbar in Kraft – Marktüberwachungsbehörde ahndet Verstöße

Von Arun Kapoor *)

*) Dr. Arun Kapoor ist Partner der Kanzlei Noerr und Co-Leiter der Praxisgruppe Produktregulierung & Product Compliance

Ab 28. Juni gelten in Europa neue Anforderungen an die Barrierefreiheit bestimmter digitaler Produkte und Dienstleistungen. An diesem Tag tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft. Dieses Gesetz geht auf eine europäische Richtlinie aus dem Jahr 2019, den sogenannten European Accessibility Act (EAA), zurück. Die neuen Regelungen verpflichten Unternehmen, ihre digitalen Angebote so zu gestalten, dass sie von Menschen mit Behinderungen oder sensorischen Einschränkungen ohne unverhältnismäßige Erschwernisse genutzt werden können.

Konkret bedeutet das, dass etwa ein App-Anbieter von Produkten oder Dienstleistungen sein Angebot sowohl im Hochformat als auch im Querformat anbieten muss. Zudem müssen Dienstleister beispielsweise ihre Produktvideos auf ihrer Website zwingend mit Untertiteln versehen. Das BFSG dient der gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben.

Anforderungen an die Industrie

Bisher existierten Anforderungen an die Barrierefreiheit hauptsächlich für öffentliche Stellen. Obwohl Industrie und Handel in Europa seit Inkrafttreten des EAA fünf Jahre Zeit hatten, sich auf die neuen Anforderungen einzustellen, dürften viele Unternehmen die nun geltenden Anforderungen vor erhebliche Herausforderungen stellen. Für die meisten Wirtschaftsakteure gelten die neuen Anforderungen unmittelbar und uneingeschränkt ab dem Stichtag. Übergangsfristen gibt es jetzt nur noch in inhaltlich eng begrenztem Umfang. Erleichterungen sieht das Gesetz in Übereinstimmung mit den europarechtlichen Vorgaben nur für Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und mit einem Umsatz von maximal zwei Millionen Euro vor.

Inhaltlich erstrecken sich die neuen Barrierefreiheitsanforderungen auf digitale Produkte und Dienstleistungen. Der Katalog der betroffenen Produktbereiche erscheint dabei zunächst überschaubar und umfasst beispielsweise Laptops, PCs, Tabletts, E-Book-Lesegeräte oder Selbstbedienungsterminals wie etwa Geld- oder Fahrausweisautomaten. Industrie und Handel sollten sich nach einem Blick auf die erfassten Produkte allerdings nicht zu früh in Sicherheit wähnen.

Vier Prinzipien

Die neuen Anforderungen gelten nämlich darüber hinaus auch für zahlreiche digitale Dienstleistungen, die für Verbraucher erbracht werden. Darunter fallen etwa Telekommunikationsdienste, Finanzdienstleistungen oder sonstige Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr, also insbesondere alle Ausprägungen von Onlineshops, deren Angebot sich an Verbraucher richtet. Auch wenn die eigenen Produkte als solche also nicht in den Anwendungsbereich des BFSG fallen, wird der onlinebasierte Vertrieb dieser Produkte häufig erfasst sein. Das BFSG betrifft daher unzählige Unternehmen aus Industrie, Handel und E-Commerce, aber auch aus den Bereichen Telekommunikation, Versicherungs- und Finanzdienstleistungen, soweit sie als Dienstleister im elektronischen Geschäftsverkehr auftreten.

Inhaltlich richten sich die Anforderungen des BFSG auf die vier wesentlichen Prinzipien der Barrierefreiheit: Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit. Digitale Inhalte müssen also so präsentiert werden, dass sie von Nutzern ungehindert wahrgenommen werden können, was etwa Anforderungen an die Implementierung von Textalternativen für Bilder oder an die Untertitelung von filmischen Inhalten nach sich ziehen kann.

Das Prinzip der Bedienbarkeit zielt darauf ab, dass digitale Produkte oder Websites etwa auch die Möglichkeit bieten müssen, über die Tastatur bedient zu werden. Verständlichkeit fordert klare Sprache und gut strukturierte Inhalte, während das Kriterium der Robustheit darauf abzielt, dass digitale Inhalte möglichst vielseitig genutzt werden können.

Die von den Wirtschaftsakteuren konkret einzuhaltenden Vorgaben ergeben sich dabei bemerkenswerterweise nicht aus dem Gesetz selbst und nicht in vollem Umfang aus der Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV). Die dort geregelten grundlegenden Barrierefreiheitsanforderungen werden in europäisch harmonisierten technischen Normen weiter konkretisiert. Dabei handelt es sich um Industriestandards, die von privatwirtschaftlich organisierten europäischen Normungsorganisationen im Auftrag der Europäischen Kommission erarbeitet werden. Wirtschaftsakteure, die ihre digitalen Produkte und Dienstleistungen nach Maßgabe dieser Normen gestalten, kommen in den Genuss einer sogenannten Konformitätsvermutung. Zu Ihren Gunsten wird also vermutet, dass sie die Anforderungen des BFSG einhalten. Diese für den Rechtsanwender mitunter schwer durchschaubare Systematik hat ihre Grundlage in der Regulierung des europäischen Produktsicherheitsrechts.

Leider bleibt es für den Rechtsanwender nicht dabei, dass er sich neben dem Gesetz und der zugehörigen Verordnung mit den in Bezug genommenen technischen Normen befasst. Die harmonisierten technischen Normen selbst verweisen nämlich ihrerseits weiter auf die sogenannte Web Content Accessibility Guidelines (WCAG). Hierbei handelt es sich um internationale Richtlinien für barrierefreie Webinhalte, die Standards zur Gestaltung von Webseiten und digitalen Inhalten setzen. Sie konkretisieren die grundlegenden Barrierefreiheitsanforderungen noch weiter. Zu jedem der vier Grundprinzipien der Barrierefreiheit definieren die WCAG bestimmte Erfolgskriterien und Konformitätsstufen, die aufeinander aufbauen. Ganz konkret bedeutet dies beispielsweise für den Anbieter einer Smartphone-App, mithilfe derer Verbraucher Verträge über Produkte oder Dienstleistungen abschließen können, dass diese auf dem Smartphone sowohl im Hochformat als auch im Querformat funktionieren muss. Wer diese Anforderung im BFSG oder in der Verordnung zum BFSG sucht, wird scheitern. Für den Anwender erschließt sich diese Anforderung erst im Zusammenspiel der vorgenannten Regelungen mit der europäisch harmonisierten Norm EN 301 549 sowie den Anforderungen aus Ziff. 1.3.4 der WCAG 2.1.

Bußgelder bis zu 10.000 Euro

Unternehmen, die die erforderliche Barrierefreiheit ihrer digitalen Angebote aktuell noch nicht sicherstellen können, müssen mit empfindlichen Konsequenzen rechnen. Für den Vollzug des Gesetzes wird in Deutschland eine zentrale Marktüberwachungsbehörde mit Sitz in Magdeburg eingerichtet. Verstöße gegen die Barrierefreiheitsvorgaben kann diese mit Bußgeldern bis zu 10.000 Euro sanktionieren. Außerdem können in Bezug auf nicht konforme Produkte Vertriebsverbote und Rückrufanordnungen ausgesprochen werden. Nicht konforme digitale Dienstleistungen kann die Behörde verbieten. Außerdem können Wettbewerber gegen nicht konforme Produkte und Dienstleistungen ihrer Marktbegleiter mit den Mitteln des Wettbewerbsrechts vorgehen. Nach dem Behindertengleichstellungsgesetz anerkannte Verbände können gegen Verstöße vorgehen, indem sie ihrerseits wettbewerbsrechtliche Schritte einleiten, Betroffene über ihre Rechte informieren und Verstöße gegenüber den zuständigen Behörden in Europa anzeigen.

Wie im Produktsicherheitsrecht bereits seit Jahren üblich, müssen Unternehmen, deren Produkte und Dienstleistungen den geltenden Barrierefreiheitsanforderungen nicht entsprechen, sich proaktiv bei ihrer zuständigen Marktüberwachungsbehörde melden und die Non-Compliance zur Anzeige bringen. Die mögliche Hoffnung betroffener Wirtschaftsakteure, mit gesetzlichen Verstößen längerfristig unter dem Radar von Vollzugsbehörden, Wettbewerbern und NGOs zu bleiben, wird sich daher absehbar nicht erfüllen. Unternehmen, die betroffene Produkte herstellen oder vom Gesetz erfasste Dienstleistungen erbringen, sollten sich intensiv mit den neuen Anforderungen befassen, um diese zügig umzusetzen und behördliche oder wettbewerbsrechtliche Sanktionen zu vermeiden.

Für Unternehmen, die der Auffassung sind, dass die Umsetzung der Anforderungen für sie nur mit wirtschaftlich völlig unverhältnismäßigen Mitteln möglich wäre, hält das BFSG in § 17 eine Ausnahmevorschrift vor. Wer sich darauf berufen möchte, muss die unverhältnismäßige Belastung anhand von gesetzlich genau geregelten Kriterien begründen, dokumentieren und mit der zuständigen Marktüberwachungsbehörde abstimmen. Für manch kleines Unternehmen wird dies funktionieren. Der Großteil der betroffenen Wirtschaftsakteure wird sich darauf allerdings absehbar nicht berufen können.

*) Dr. Arun Kapoor ist Partner der Kanzlei Noerr und Co-Leiter der Praxisgruppe Produktregulierung & Product Compliance