Im Interview Bain-Deutschlandchef Walter Sinn

„Heutzutage hat ein Unternehmen ständig Krise“

Walter Sinn, der Deutschlandchef der Beratungsgesellschaft Bain, erläutert, was seine Kunden bewegt und was die Politik endlich für den Standort Deutschland anpacken müsste.

„Heutzutage hat ein Unternehmen ständig Krise“

Im Interview: Walter Sinn

„Heutzutage hat ein Unternehmen ständig Krise“

Der Deutschlandchef der Beratungsgesellschaft Bain sagt, was seine Kunden bewegt und was die Politik endlich anpacken müsste

Die Lage der deutschen Wirtschaft hält Walter Sinn für alarmierend. „Der Handlungsbedarf ist akut“, sagt der Deutschlandchef von Bain & Company. Alle müssten sich bewegen: die Politik, die Unternehmen, die Bürger. Notwendig sei ein Plan für mehr Leistungsbereitschaft und eine überzeugende Industriepolitik.

Das Interview führte Joachim Herr. Die vollständige Version lesen Sie auf www.boersen-zeitung.de

Herr Sinn, redet die Wirtschaft den Standort Deutschland schlecht?

Es geht in keiner Weise um ein Kaputtreden. Der Standort Deutschland hat eine Riesensubstanz und ein enormes Zukunftspotenzial. Aber die Rahmenbedingungen sind ohne jeden Zweifel alarmierend. Die Unternehmen versuchen sich gerade in der Politik Gehör zu verschaffen, fühlen sich aber nicht richtig wahrgenommen. Das habe ich auch in diesen Tagen bei meinem Besuch auf der Industriemesse in Hannover empfunden.

Welche Bedingungen meinen Sie? 

Das reicht von den Energiepreisen bis zu den geopolitischen Risiken. Mit Blick auf die Wachstumsaussichten ist die deutsche Wirtschaft das Schlusslicht unter den Industrienationen. Das ist schon alarmierend. Hinzu kommt die schwindende Wettbewerbsfähigkeit: Im jüngsten Ranking des renommierten Schweizer Instituts IMD ist Deutschland 2023 auf den 22. Platz in der Welt durchgereicht worden – vom 15. im Jahr zuvor. Wir lagen mal auf einem einstelligen Rang.  

Im Sport wäre das ein echter Abstieg.

Dabei sind viele deutsche Unternehmen bärenstark. Sie investieren weiterhin viel in Forschung und Entwicklung, treiben Innovationen voran. Der deutsche Mittelstand spielt ganz vorn, zum Beispiel was Anwendungen in puncto Industrie 4.0 beziehungsweise künstliche Intelligenz angeht. Aufgabe der Politik ist, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass der Standort Deutschland hoch attraktiv bleibt. Der Handlungsbedarf ist akut.

Was müsste getan werden?

Ich fasse es in drei Punkten zusammen. Am Anfang jeder notwendigen Veränderung steht eine klare, schonungslose Analyse.  

Case for Change, wie Berater sagen.

Genau, das würde man auch im Fall einer Unternehmenstransformation sagen. Zum Start bräuchten wir einen Ruck in Deutschland. Es ist wirklich Zeit, dass die Politik der Bevölkerung sagt: Wir alle müssen uns bewegen.

Was meinen Sie damit?  

Wir brauchen eine höhere Produktivität und damit im Zweifel mehr Arbeit und mehr Leistung. Es geht zum Beispiel um einen attraktiven Gegenentwurf zu einer Vier-Tage- oder 35-Stunden-Woche, um ein höheres und flexibleres Rentenalter und auch um ein Eingrenzen von Sozialleistungen.

Ließen sich solche Veränderungen überhaupt durchsetzen?

Einfach ist das nicht. So eine Transformation dauert Jahre und ist anstrengend. Und ohne vorher ein Bewusstsein dafür zu schaffen, um die Menschen mitzunehmen, wird es nicht gehen. 

Was sollten die Politiker also tun?     

Die Politik braucht Standfestigkeit und Mut, diesen Case for Change herauszuarbeiten. Und es bräuchte eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede à la Churchill. Bundeskanzler Scholz hatte mit seiner „Zeitenwende“-Aussage vor zwei Jahren eigentlich den richtigen Akzent gesetzt. Die bisher letzte große strukturelle Veränderung in Deutschland war die „Agenda 2010“ unter Gerhard Schröder. Ähnliches wäre jetzt wieder notwendig. 

Angesichts der ständigen Scharmützel in der Ampel-Koalition stellt sich die Frage, ob das überhaupt möglich wäre. 

Als Reaktion auf den Angriff Russlands auf die Ukraine hat Deutschland schnell Entscheidungen getroffen – wie auch während der Corona-Pandemie. Als Stichwort nenne ich nur die LNG-Terminals als Alternative zum Gas aus Russland. Auf die sogenannte neue Deutschland-Geschwindigkeit waren alle stolz. Zu Recht. Wir sind nur leider hinsichtlich der Entscheidungsgeschwindigkeit stecken geblieben.  

Und wie ließe sich ein Bewusstsein für mehr Leistung in Deutschland wecken?

Wichtige Ansatzpunkte sind im Bereich Bildung – vor allem das Schulsystem und die Berufsausbildung. Zum Beispiel für die Digitalisierung. Aber auch der Sport ließe sich nutzen, um Leistungsbereitschaft und Teamfähigkeit zu fördern. Das alles ist bei einigen ein wenig verlorengegangen. Auch die junge Bevölkerung sollte verstehen, dass es nicht nur um eine persönliche Optimierung mit Homeoffice und vielleicht mit Teilzeitarbeit geht, sondern dass es wieder eine Leidenschaft geben muss, sich reinzuhängen, Lösungen zu entwickeln, Leistung zu zeigen.

Ist die junge Generation entscheidend, um den Standort D voranzubringen?

Wir müssen an verschiedenen Stellen ansetzen. Aber ein wesentlicher Punkt ist, Kinder und Jugendliche nicht einfach auswendig lernen zu lassen, sondern ihre Lernbereitschaft und Neugier zu wecken. Moderne Technologien, digitale Anwendungen und künstliche Intelligenz sollten in einer klugen Art und Weise in den Lehrstoff eingebracht werden.

Zurück zu Ihrer Agenda. Case for Change ist Ihr erster Punkt.

Der zweite ist ein Plan für Deutschland mit einer aktiveren, stringenten und echt überzeugenden Industriepolitik. Der dritte ist Schnelligkeit und Bürokratieabbau.

Welche Industriepolitik empfehlen Sie?  

Wir bräuchten eine Industriepolitik mit sehr klaren Anreizen, mit klaren Rahmenbedingungen und auch staatlichen Investitionen. Sie müsste zudem in ein Zielbild für Europa eingebettet sein. Wir müssen die Fragen beantworten: Was sind unsere Schlüsselindustrien, und wie vermeiden wir die derzeit intensiv diskutierte Deindustrialisierung?

Wie könnte das gehen?

Das Ganze müsste wie ein Großprojekt gemanagt werden mit einem konkreten Fahrplan und Meilensteinen sowie einer Einbindung in die Haushaltspolitik. Da ist man sehr schnell bei der Schuldenbremse. Aus meiner Sicht bräuchten wir Extrahaushalte, die über einen Ein-Jahres-Horizont hinausgehen, um die Investitionen in Zukunftsthemen zu ermöglichen.

Welche Anreize schlagen Sie vor?

Die Anreize müssten praktikabel sein, damit sie auch ankommen und schnell wirken. Und sie müssten schlüssig sein: Zum Beispiel gleichzeitig Elektromobilität zu fördern und Subventionen für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren zu zahlen, geht nicht. Ein ganz wichtiges Element ist die Mobilisierung privater Kapitalgeber, ohne die wir die großen Transformationsausgaben nicht finanzieren werden können. Und: Wir müssen Hochschulen und Forschungsinstitute, aber auch Topwissenschaftler aus dem Ausland dazu bringen, sich auf die entscheidenden Innovationsthemen zu fokussieren.

Zum Beispiel auf künstliche Intelligenz.

Zum Beispiel. Es geht aber auch um Digitalisierung generell. Die Wasserstoffwirtschaft ist ebenfalls ein spannendes Feld oder die Speicherkapazität von Batterien. Gerade bei der künstlichen Intelligenz sehe ich jedoch Handlungsbedarf für die Unternehmen.    

Welchen?

Laut der letzten Bitkom-Studie zum Thema KI setzen in Deutschland 15% der Unternehmen künstliche Intelligenz ein. In der Umfrage zuvor waren es erst 9%. Aber 15% bedeuten auch, dass 85% auf diesem Feld noch nicht aktiv sind.

Zu Ihrem dritten Punkt: Die Bürokratie gibt Unternehmen seit Jahrzehnten Anlass zur Kritik. Da tut sich aber wenig.

Ja, und darin steckt eine große Gefahr. Die überbordende Bürokratie in Deutschland wie auch in der EU beschädigt das Vertrauen in die Demokratie. Das bringt den rechts- und linkspopulistischen Parteien Zulauf. Ich könnte unzählige Beispiele nennen. Eines im Zusammenhang mit dem Wohnungsbau, wo mehr passieren müsste: Um aus Brachland Bauland zu machen und dann den Bau fertigzustellen, dauert es mit allen Anträgen und Plänen länger als zehn Jahre. Das macht einen sprachlos.   

Es gibt ja ein Entbürokratisierungsgesetz.

Ja, allerdings vermisse ich die entscheidenden Fortschritte. Beispiel: die Digitalisierung von Verwaltungsleistungen. Von den 575 Einzelpunkten waren Ende 2023 erst knapp 30% umgesetzt – und das ein Jahr nach dem geplanten Datum. 

Wie ernst ist nach Ihrer Einschätzung die Gefahr einer Deindustrialisierung?

Die deutschen Unternehmen investieren weiterhin hierzulande. Aber es ist klar zu erkennen, dass in den letzten zwei, drei Jahren das Interesse an Auslandsinvestitionen weiter zugenommen hat.

Liegt das an Mängeln des Standorts Deutschland oder geht es eher um die Nähe zu Märkten?

Es ist beides. An einem Riesenmarkt wie China, künftig möglicherweise auch Indien, kommen deutsche Industrien wie Automobil und Chemie kaum vorbei. Aber auch die zunehmende Schwerfälligkeit und Kostenbelastung in Deutschland veranlassen Unternehmen, die nächste Investition zum Beispiel in den USA zu tätigen. Das ist ein nüchternes Abwägen, bei dem auch Subventionspolitik eine Rolle spielt.  

Machen das viele Ihrer Kunden?

Punktuell werden Entscheidungen pro Ausland getroffen, die in der Vergangenheit vielleicht pro Deutschland getroffen worden wären. Ich möchte keineswegs einen Abgesang auf unseren Standort anstimmen. Aber allein die Tatsache, dass Unternehmen solche Überlegungen häufiger anstellen, ist alarmierend.

Der Standort Deutschland hat aber nach wie vor auch große Vorteile.

Ja, es gibt gute Gründe, in Deutschland zu investieren. Das geht los mit Demokratie und Rechtssicherheit, unserem dualen Ausbildungssystem und den Hochschulen. Wir waren schon immer führend bei Innovation und Technologie, jetzt auch beim Thema Nachhaltigkeit. Aber ich habe das Gefühl, man müsste diese Gründe aufpolieren und schärfen. Wir brauchen ein Made in Germany 2.0.

Was können die Unternehmen selbst besser machen? Etliche stecken gerade wieder in einer Restrukturierung.

Strategisch geht es für viele um das Geschäftsportfolio und die Frage, auf welche Produkte und Aktivitäten konzentriere ich mich. Wo liegt mein Wettbewerbsvorteil? Das sieht man gerade etwa in der Automobilzuliefererindustrie und im Maschinenbau.

Also Desinvestitionen und Zukäufe.  

Ein anderes großes Thema ist das Optimieren, wenn der Wind wie jetzt ins Gesicht bläst. Stichworte: Kosteneffizienz, Resilienz, wetterfest machen. Es gibt zurzeit viele Überlegungen und Projekte, die in Richtung Kosten gehen. Dabei geht es um strukturelle Veränderungen, aber auch um eine kontinuierliche Verbesserung. Heutzutage hat ein Unternehmen sozusagen ständig Krise, ist ständig in einer Transformation.

Zu Ihrer Branche: Trifft das Kostensparen der Unternehmen auch die Berater?

Zum Teil kürzen Unternehmen die Budgets oder verschieben Entscheidungen über Projekte. Auf der anderen Seite geben uns die angesprochenen Themen Rückenwind und bedeuten eine große Nachfrage. Wir planen für dieses Jahr wie für das vergangene ein zweistelliges Wachstum.

Bain & Company in Deutschland oder in der Welt?

2023 sind wir in der DACH-Region zweistellig gewachsen. Das weltweite Geschäft war wie für die gesamte Beraterbranche etwas schwächer. 

Und in diesem Jahr?

Wir sind insgesamt auf einem klar zweistelligen Wachstumskurs.

Was heißt das in absoluten Zahlen, wie hoch war der Umsatz 2023?

Diese Zahlen nennen wir nicht. Da sind wir aus Wettbewerbsgründen zurück-
haltend.