Supply Chain Finance

Lieferketten-Finanzierer erobern den Markt

Trotz des Debakels um Greensill Capital boomt das Segment der Supply Chain Finance. Banken könnten dabei ein weiteres Element ihrer Geschäftsbeziehung zu Unternehmen verlieren.

Lieferketten-Finanzierer erobern den Markt

Von Bernd Neubacher, Frankfurt

Mängel in Regulierung und Aufsicht haben das Debakel um den Liefer­kettenfinanzierer Greensill Capital begünstigt. Doch strikte Regulierung scheint Supply Chain Finance zugleich neue Kunden zuzuführen: Während das britisch-australische Vehikel, das mit Hilfe von Finanzierung durch Credit-Suisse-Fonds und Einlagen deutscher Kleinanleger bei der Bremer Greensill Bank, von der Aufsicht unbemerkt, ein gehöriges Klumpenrisiko gegenüber der Gruppe des Stahlmagnaten Sanjeev Gupta angehäuft hatte, auch Monate nach der Insolvenz noch jeden Small Talk von Finanzleuten bereichert, herrscht andernorts im Markt rege Betriebsamkeit, um eben dieses Marktsegment auszubauen. Hat Greensill den Aufschwung der Lieferkettenfinanzierung gestoppt? Pustekuchen. Start-ups rennen großen Banken derzeit die Bude ein, um sie von einer Beteiligung an Supply-Chain-Finance-Plattformen zu überzeugen. Und in den Vorständen gerät man tatsächlich ins Grübeln, denn man will ja nichts verpassen.

Das Segment boomt seit längerem. Wie der vom britischen Verlagshaus BCR erstellte World Supply Chain Finance Report 2021 aufzeigt, hat dieses Segment der Unternehmensfinanzierung in Europa allein im vergangenen Jahr um 31% auf ein Volumen von umgerechnet 337 Mrd. Dollar zugelegt. 2015 hatte es noch bei 100 Mrd. Dollar gelegen. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahres hat die Zahl der Unternehmen, die eine Lieferkettenfinanzierung nutzen, nach Angaben des auf Betriebskapital spezialisierten Finanztechnologieanbieters Prime Revenue gegenüber 2019 um ein Viertel zugenommen.

Die Pandemie hat seit dem vergangenen Jahr Unternehmen vor Augen geführt, wie wichtig die Steuerung von Betriebskapital sein kann. Wie die Hochschule St. Gallen darlegt, zog die Zahl überfälliger Rechnungen im März und April vergangenen Jahres um 70% an. In Reaktion auf diese Verzögerungen hätten Unternehmen im großen Stil versucht, Zahlungsmodalitäten mit Zulieferern neu zu verhandeln, und mögliche negative Effekte auf die Zulieferer entweder ignoriert oder nicht ausreichend berücksichtigt, wie die Fachleute festhalten.

Was hätte da mehr Sinn als ein Finanzdienstleister, der als Intermediär die Zahlungsströme zwischen beiden Parteien koordiniert und finanziert, all dies womöglich auf einer Plattform, auf der sich einem Unternehmen die Wahl zwischen mehreren Intermediären bietet? Untersuchungen hätten gezeigt, dass Unternehmen, welche die Steuerung ihres Betriebskapitals systematisch optimierten, ihre finanzielle Performance nachhaltig verbessern könnten, heißt es in St. Gallen. So werde die Dauer des Zahlungsausstands um durchschnittlich 28 Tage oder 64% verkürzt. Die Rendite aufs eingesetzte Kapital verbessere sich um fast 40% oder neun Prozentpunkte.

Banken halten sich zurück

Zugleich hat die Pandemie die Sicht von Banken gerade auf Zulieferer verändert, wie in der Branche berichtet wird. Gerade kleine Firmen und Gewerbetreibende würden mancherorts neuerdings mit spitzeren Fingern angefasst, da Finanzinstitute vielfach vor den längerfristigen Bonitätsrisiken zurückschreckten, heißt es. Ohnehin ist noch offen, wie unter den künftigen Kapitalregeln des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht die Pflichten zur Unterlegung von Darlehen an Firmen ohne externes Rating, an die sogenannten Unrated Corporates, konkret aussehen werden. In Fällen kleiner Gewerbetreibenden verleide schon der mit dem Know-your-Customer-Prozess (KYC) verbundene Aufwand einem Institut den Beginn einer Geschäftsbeziehung, wird berichtet.

Wenn sich eine Bank im Zuge von Supply Chain Finance zwischen ein Unternehmen und dessen Zulieferer stellt, um diesen Gewerbetreibenden zu finanzieren, steht ihr der KYC-Prozess ebenfalls ins Haus – nicht jedoch etwa, wenn sie sich darauf beschränkt, Preisabschläge für das Unternehmen bei vorzeitiger Bezahlung seiner Zulieferer zu koordinieren (siehe Kasten). In der Tat zeigt der jüngste Bank Lending Survey der EZB, dass die Banken bundesweit ihre Kreditstandards für kleine und mittlere Unternehmen seit dem Startquartal 2020 kontinuierlich verschärfen, und zwar im zweiten Quartal so stark wie seit Spätsommer 2017 nicht mehr. Aus Sicht der kleinen Firmenkunden kommt hinzu, dass sie bei Banken ohnehin höhere Zinssätze berappen als größere Unternehmen, auch weil dort der Bearbeitungsaufwand in Relation zum Finanzierungsvolumen stärker zu Buche schlägt.

Schon werden im Lager der Lieferkettenfinanzierer Anekdoten herumgereicht von Geschäftsinhabern, denen Supply Chain Finance schlicht das Überleben in der Pandemie gesichert hat. Vor allem Banken, die hauseigene Suppy-Chain-Finance-Programme unterhalten, stellen sich nun schon im Interesse des Selbsterhalts die Frage, wie sie es mit der Lieferkettenfinanzierung und deren Plattformen halten. Motto: Besser, wir teilen diese Form des Kundengeschäfts mit Plattformakteuren, als unsere Lieferkettenfinanzierung auf Sicht vollkommen aus der Hand zu geben.

„Einfacher machen“

„Geht es um relativ standardisierte Lieferketten und deren Finanzierung, können das in einigen Fällen Fintechs genauso kompetent und gut, aber auch schneller und einfacher machen als Banken“, räumt ein hochrangiger Unternehmensbanker ein. Warum aber sollten Firmenkunden, die auf einer Plattform erst einmal die Wahl zwischen diversen Anbietern hatten, anstatt auf die Konditionen ihrer Hausbank angewiesen zu sein, überhaupt noch einmal zurückkehren? Mancherorts macht in Chefetagen von Banken bereits das Szenario die Runde, dass die Kreditwirtschaft, schon um den Angriff der Plattformen abzuwehren, analog zum Zahlungsinformationsnetz Swift ein globales Netz aufbauen wird, das den Markt der Liefer­ketten­finanzierung im Bankensektor hält.

Diverse Hürden

So weit ist es aber noch lange nicht. Die Plattformen stehen vor diversen Hürden, und der Teufel steckt im Detail (siehe Text auf dieser Seite). Für die Apologeten der Lieferkettenfinanzierung ist freilich klar, dass sich der Plattform-Gedanke unweigerlich durchsetzen wird. Kunden wollten unabhängiger und nicht an eine Bank gebunden sein, heißt es mit Verweis auf Umfragen, denen zufolge 42% der befragten Unternehmen eine Plattform, 34% eine Kombination aus Bank und Plattform, aber nur 14% ein reines Bank-Angebot bevorzugen.

Auch Banken mache die Teilnahme flexibler, könnten sie doch Geschäft, das sie nicht interessiere, anderen Plattform-Akteuren überlassen, heißt es. Überdies winkten ihnen Erträge: als Teilhaber einer Plattform oder aber als Adresse, die der Plattform Teilnehmer zuführt und dafür Provisionen kassiert. Plattform-Betreibern winkt wiederum die Aussicht, durch Anbindung weiterer Finanzdienstleister rasch an Größe, Gewicht und Wert zu gewinnen – vorausgesetzt, keine Adresse wird im Eignerkreis zu dominant, so dass der offene Charakter einer Plattform in Gefahr gerät, wie argumentiert wird. Potenzial ist im Markt zweifelsohne vorhanden: Allein die Deutsche Bank unterhält 600 verschiedene Supply-Chain-Finance-Programme. Die Zahl der Zulieferer, deren Forderungen ein Unternehmen durch eine Bank aufkaufen oder vorzeitig begleichen lässt, kann schon einmal 25000 erreichen. Üblicher sind Zahlen zwischen 2000 und 5000, wie berichtet wird.

Die Geldpolitik befeuert

Zugleich hat die lockere Geldpolitik vor allem dem Segment des „Dynamic Discounting“ einen Boom beschert. Denn während die Notenbank die Kreditzinsen für Schuldner auf niedrigem Niveau hält, wird es für Käufer von Waren mangels Anlagealternativen attraktiver, in Preisnachlässe dank vorzeitiger Zahlung zu investieren und damit zugleich die Solidität ihrer Zulieferer zu stärken. So hat das Segment der Forderungsfinanzierung in den vergangenen Jahren um jeweils 15% bis 20% zugelegt, das Feld des sogenannten Dynamic Discounting indes ist um 25% bis 30% gewachsen.