Umstellen der Referenzzinssätze gleicht Herkulesaufgabe

Die Herausforderungen scheinen gewaltig - Um diese zu meistern, ist ein Anfang bereits heute von zentraler Bedeutung

Umstellen der Referenzzinssätze gleicht Herkulesaufgabe

Die Finanzbranche stellt sich auf neue Referenzzinssätze ein, die im Gegensatz zu Libor und Euribor (im Folgenden Ibor) “sicher” und risikolos sein sollen. Doch diese Umstellung ist so tiefgreifend, dass sie den zwölf Aufgaben gleicht, die Herkules zu bewältigen hatte.1. Herr der Lage sein – Ein guter Überblick ist unabdingbar. Demzufolge ist eine zentrale Anlaufstelle in einem Unternehmen, beispielsweise im Rahmen eines Projektes hilfreich, um die facettenreichen Aspekte der Reform ganzheitlich abzudecken. Diese soll die Koordination der einzelnen Aufgaben ermöglichen und sich wie ein Spinnennetz über alle Einheiten erstrecken.2. Wo ist mein Risiko? – Zunächst ist es wichtig, eine Inventur zu erstellen. Diese soll Aufschluss darüber geben, wo Ibor im Unternehmen verwendet wird. Zentral sind Vertragskonditionen, Volumen, Restlaufzeiten und die Auffanglösungen für einen Wegfall der Referenzzinssätze. In einem zweiten Schritt sollten die Auswirkungen auf die Gewinn-und-Verlust-Rechnung (GuV), die Buchhaltung, die Bewertungen, die IT-Systemlandschaft sowie die rechtlichen Folgen untersucht werden.3. Eine Übersicht der Buchstabensuppe – In Euroland steht die neue “unbesicherte” Referenz Ester (Euro Short Term Rate) fest und wird ab Oktober dieses Jahres publiziert. Ester löst Eonia als Tagesgeldsatz ab und langfristig auch Euribor. Eine Verlängerung der Galgenfrist für Eonia und Euribor um zwei Jahre bis Ende 2021 wurde kürzlich erst ratifiziert. In England hat sich Sonia etabliert und in den USA nimmt SOFR (Secured Overnight Financing Rate) Gestalt an. In der Schweiz ist Saron (Swiss Average Rate Overnight) und in Japan Tona (Tokyo Overnight Average Rate) auf dem Vormarsch.Die Entwicklungen der unterschiedlichen Referenzzinssätze sind in diversen Ländern uneinheitlich fortgeschritten. Diese zu verfolgen, ist unentbehrlich. Beispielsweise wurde kürzlich noch spekuliert, dass der Handel in SOFR-Derivaten kaum fortgeschritten ist. Nun hat LCH SwapClear, die Verrechnungsstelle für Zinsderivate, bekannt gegeben, dass alle USD- Zinsprodukte im zweiten Halbjahr 2020 auf SOFR diskontiert und die Finanzierungskosten für Sicherheiten ermittelt werden. Dies ist ein fundamentales Zeichen, dass SOFR hier die Zukunft ist.4. Der Kapitalmarkt – Bestehende mit Ibor verzinste Emissionen und Restlaufzeiten über das Jahr 2021 sind mit Unsicherheit behaftet. Bei älteren Wertpapieren gibt es keine Auffanglösung. Hier würde die letzte offizielle Zinsfeststellung in alle Ewigkeit fortgeschrieben und die variable Emission faktisch in eine feste konvertiert. Bei neuen Anleihen, speziell mit langen Laufzeiten, sollte kein Ibor mehr verwendet werden. Zudem ist es zweckmäßig auf Risiken in den Prospekten hinzuweisen und klare Auffanglösungen zu vereinbaren.5. Der Kredit – Generell ist in Altkreditverträgen keine Auffanglösung bedacht. Hier wird nur die zeitweilige Nichtverfügbarkeit festgelegt. Schlussendlich müssten die Refinanzierungskosten des Kreditinstitutes ermittelt und offengelegt werden. Dies ist nicht praktikabel. Daher empfiehlt es sich, schon heute Vorsorge zu treffen und beispielsweise im Kreditvertrag die Erleichterung von Vertragsänderungen zu ermöglichen. Hierzu gibt es bereits ein Muster, an dem sich Neuverträge orientieren können.6. Der Derivatemarkt – Das Herz der Reform ist der Derivatemarkt. Er wird federführend für alle Bereiche der Wirtschaft sein. Maßgeblich sind hier die Vorstöße der ISDA, die beispielsweise auf den deutschen Rahmenvertrag ausstrahlen werden.Derzeit gibt es keine Regelung, wie bei Derivateverträgen zu verfahren ist, wenn Ibor eingestampft wird. Folglich beschäftigt sich ISDA mit einer Vorlage, den ISDA Benchmark Supplements, die von Banken in Kürze bei Neugeschäft Niederschrift finden, und bei der Heilung von Altgeschäft in Form eines Protokolls. Unternehmen sollten sich heute über die Auswirkungen Gedanken machen.Bei einem Ibor-Wegfall sollen die neuen Referenzzinssätze als Auffanglösung einspringen. Diese Tagesgeldsätze werden über die jeweilige Periode rückwirkend ermittelt und verzinsen sich laufend. Der Risikoaufschlag wird über einen historischen Zeitraum ermittelt und an einem Stichtag festgeschrieben. Folglich wird es Gewinner und Verlierer geben.7. Vom gewohnten Terminsatz zum Tagesgeldzinssatz – Unternehmen haben sich daran gewöhnt, Zinssätze und daraus resultierende Geldflüsse im Voraus zu kennen. Die neue Welt sieht langfristig keine Terminzinssätze mehr vor. Anstelle des Altbekannten wird in Zukunft ein Tagesgeldzinssatz stehen.Hier könnten Unternehmen umdenken. Wer mittelfristig auf Terminsätze verzichtet, erspart sich Absicherungskosten, greift auf bestmögliche Liquidität zurück, agiert nach den Wünschen des Regulators und reduziert die Anfälligkeit für Manipulationen. Dass dies funktioniert, zeigt der Sonia-Markt für variable Anleihen exemplarisch. Emittenten und Investoren stellen auf den vor einem Jahr noch ungebräuchlichen Referenzzinssatz um. Dieses Jahr wurde keine Benchmark-Anleihe mehr auf GBP-Libor Basis emittiert.8. Verzinsung mit Tagesgeldzinssätzen – Bei den Grundgeschäften gibt es Möglichkeiten, die Verzinsung auf Tagesgeldzinssätze anzupassen. Eine ist, den Tagesgeldzinssatz mittels Zinseszins fortlaufend zu berechnen und am Ende der Periode ein längeres Zeitfenster, wie etwa fünf Tage, für die Abwicklung zu vereinbaren. Eine weitere ist, die Beobachtungsperiode von der Zinsperiode abzukoppeln. Bei SOFR hat sich daneben eine Variante ergeben, bei der die Beobachtungsperiode am Ende, beispielsweise fünf Tage vor Abrechnung, in Stein gemeißelt wird, also der Zinssatz für die verbleibenden fünf Tage gleich bleibt.9. Ungewissheit künftiger Zahlungsströme – Um Sicherheit für bevorstehende Perioden zu erzielen, kann man auf Derivate oder feste Zinssätze zurückgreifen. Die Liquidität wird bei Derivaten, die auf die neuen Referenzzinssätze abstellen, am höchsten sein. Alternativ kann für interne Berechnungen auch ein auf bekannten Modellen basierender Terminsatz herangezogen werden, um etwa interne Dienstleistungen abzurechnen.10. Die bilanziellen Herausforderungen – Eine Schwierigkeit bei der Reform ist die Auswirkung auf die Rechnungslegung. Möglicherweise wird Ibor bei der Diskontierung von finanziellen und nichtfinanziellen Posten herangezogen. Eine Änderung des Zinssatzes würde folglich auch bilanzielle Wertansätze ändern und möglicherweise GuV-Auswirkungen nach sich ziehen.Sollte ein Unternehmen nach der Reform die alten Referenzen weiterhin im Bestand haben, resultiert dies eventuell in Bewertungsproblematiken und Offenlegungspflichten. Daher ist es ratsam die Dokumentation heute bereits anzupassen.11. Handlungsalternativen – Es ist empfehlenswert, Auffanglösungen in allen bestehenden Geschäften einzuarbeiten und so mehr Vertragssicherheit zu schaffen. Die übergeordnete Absicht ist, dass diese nie in Anspruch genommen werden. Ibor-Altgeschäft könnte im Einklang mit der Entwicklung der neuen Referenzen geschlossen, ersetzt oder angepasst werden, bevor Auffangbestimmungen in Kraft treten.12. Neue Schwankungen – Die neuen Referenzzinssätze schwanken zeitweilig beträchtlich. Beispielsweise hat sich SOFR am Jahresanfang um 45 bps über Nacht verteuert. Betrachtet man jedoch den dreimonatigen SOFR-Durchschnitt und vergleicht ihn mit dem dreimonatigen USD-Libor ist er historisch gesehen weniger volatil. Auch eine Analyse der Schwankungsbreite von Zinsswaps, basierend auf Tagesgeldsätzen versus Libor, zeigt keine erhöhte Volatilität bei Absicherungsinstrumenten. Interessanterweise zeigte der Drei-Monats-USD-Libor letztens ein auffälliges Verhalten, nachdem er das zweite Mal im Februar um ca. 4bps auf Tagesbasis abstürzte. Erklärungen, im Unterschied zur neuen Referenz, sind Mangelware.All diese Herausforderungen scheinen gewaltig. Um diese zu meistern und letzten Endes dem Regulator, König Eurystheus, zu folgen, ist ein Anfang bereits heute von zentraler Bedeutung.—-Thomas Epple, Head of Financial Markets bei ING Wholesale Banking Germany