Strafprozess

„Wagenburgmentalität“ bei Wirecard

Im Wirecard-Strafprozess spricht der Kronzeuge von einer „Wagenburgmentalität“ der mutmaßlichen Täter kurz vor dem Auffliegen des Bilanzbetrugs im Frühsommer 2020.

„Wagenburgmentalität“ bei Wirecard

Von Stefan Kroneck, München

Im Strafprozess zum Bilanzbetrug bei Wirecard ist der Kronzeuge Oliver Bellenhaus die Schlüsselfigur. Der frühere Konzernstatthalter in Dubai hat bereits ausführlich über die mutmaßlichen Verstrickungen des ehemaligen Vorstands und des Ex-Chefbuchhalters in die Machenschaften sowie seine eigene Beteiligung an den Fälschungen vor dem Landgericht München berichtet. In den kommenden Tagen der Hauptverhandlung vor der zuständigen Vierten Wirtschaftsstrafkammer wird seine Befragung fortgesetzt.

In der Anfangsphase des Mammutprozesses gewährt der 49-Jährige bereitwillig Einblicke in die Struktur des kriminellen Systems und in die Geisteshaltung der mutmaßlichen Täter bei ihrem „gewerbsmäßigen Bandenbetrug“, wie die Staatsanwaltschaft München den Angeklagten vorwirft. Besonders interessant ist dabei, wie die Personen sich in den letzten Wochen und Tagen vor dem Auffliegen der Bilanzmanipulationen und dem Kollaps des einstigen Dax-Aufsteigers im Frühsommer 2020 verhielten. Bellenhaus be­schreibt das in seinen Ausführungen als „Wagenburgmentalität“. Man habe noch versucht, da durchzukommen und durchzuhalten, sagte er dem Vorsitzenden Richter Markus Födisch über jene Zeit, als die Sonderprüfung von KPMG erste Ergebnisse zeigte und EY signalisierte, den Jahresabschluss für 2019 nicht zu testieren.

Kognitive Dissonanzen

Unter diesem Druck musste „man irgendetwas erfinden, um den Wirtschaftsprüfer zufriedenzustellen“, so der Kronzeuge. Zuvor wuchs seinerzeit der Druck auf das Unternehmen in der Öffentlichkeit. Denn die zunehmende kritische Berichterstattung in den Medien über Wirecard sorgte für Kursturbulenzen der Aktie. „Am Ende haben wir uns zusammengerauft und versucht, die Dinge zurechtzubiegen“, beschrieb Bellenhaus die Lage in der hochbrisanten Phase vom Frühjahr 2020.

Das ist ein klassischer Fall einer kognitiven Dissonanz, wie es Psychologen formulieren würden: Er, der Dubai-Manager, der schon von 2013 an gewusst haben will, dass er bewusst strafbare Taten begeht, machte trotzdem weiter, obwohl ihm schwante, dass die Sache irgendwann bei der Justiz landen könnte.

In enger Zusammenarbeit mit dem damaligen Wirecard-Chefbuchhalter Stephan von Erffa, der mit auf der Anklagebank sitzt, habe er, Bellenhaus, am Computer gesessen, und „die Daten zum Drittpartnerschäft so lange manipuliert, bis diese gepasst haben“. Von Erffa habe die notwendigen Buchungsbeträge angegeben. Ende 2019 geriet Wirecard bei den Täuschungsmanövern zunehmend in die Zwickmühle, da von diesem Zeitpunkt an nach Auskunft des geständigen Mitangeklagten die sogenannten Verwalter der Treuhandkonten in Südostasien den Kontakt zum Zahlenabwickler mit Sitz in Aschheim bei München abbrachen.

„Band der Loyalität“ gerissen

„Ich habe mitbekommen, dass die von den Wirtschaftsprüfern eingeforderten Originalunterschriften zu den Salden der Treuhandkonten als Fälschungen erbracht wurden. Dies hatte Jan Marsalek gemacht. Dies hatte er mir selbst gesagt.“ Nach dem Auffliegen des Bilanzskandals ergriff das einstige Vorstandsmitglied die Flucht. Marsalek soll sich Medienberichten zufolge in Russland versteckt halten. Kurz zuvor hat Bellenhaus nach eigener Ausgabe ihn und von Erffa darüber informiert, auszupacken.

Das „Band der Loyalität war spätestens zu diesem Zeitpunkt endgültig zerschnitten“. Nach der Pressekonferenz am 18. Juni 2020 „ahnte ich schon Schlimmes. Jan sagte, dass wir Markus noch schützen sollten.“ „Das war ein Spruch von Marsalek. Da war dieser schon nicht mehr in Deutschland“, sagte er mit Verweis auf ein Telefonat mit Marsalek.

Mit „Markus“ meint Bellenhaus Ex-Vorstandschef Markus Braun. Der Kronzeuge bezichtigt ihn der Täterschaft als zentrale Figur im Bilanzbetrug. Der 54-Jährige ist der Hauptangeklagte in dem seit dem 8. Dezember vergangenen Jahres laufenden Gerichtsprozess. Auf der zitierten Online-Pressekonferenz gab Braun erstmals öffentlich zu, dass von Wirecard Bilanzen manipuliert worden seien. Der langjährige CEO  sah sich seinerzeit als „Opfer“, welches hintergangen worden sei. An dieser Version hält er offensichtlich weiter fest.

„Man versuchte noch, sich die Dinge schönzureden“, deutete Bellenhaus die damalige Situation. Wenige Tage nach diesem Auftritt im Frühsommer 2020 meldete der seinerzeitige Wirecard-Interimschef James Freis Insolvenz an. Der 1999 von Braun gegründete Zahlungsabwickler brach unter der Last von Finanzschulden in Milliardenhöhe wie ein Kartenhaus zusammen.

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