Nachhaltigkeitsratings

Wirrwarr der ESG-Noten treibt Fondsbranche um

Die Noten von ESG-Ratingagenturen klaffen oft auseinander. Fondsbranche, Aufsicht und Kapitalmarktforscher sehen darin ein Problem. Doch eine einheitliche Lesart zur Nachhaltigkeit kann es nicht geben.

Wirrwarr der ESG-Noten treibt Fondsbranche um

Von Jan Schrader, Frankfurt

ESG-Note ist nicht gleich ESG-Note. Die Ergebnisse diverser Ratingagenturen klaffen für dieselben Unternehmen mitunter auseinander – ein Missstand, wie viele meinen. Gegensätzliche Ratings sind eine der größten Hürden für die Einführung von Nachhaltigkeitsstandards im Portfoliomanagement, wie in Europa jede zweite Fondsgesellschaft und Kapitalsammelstelle laut einer Studie der Großbank BNP Paribas angibt. Die EU-Wertpapieraufsicht ESMA wiederum erkennt einen Mangel an Vorgaben für Ratingagenturen, etwa für Transparenz, Methodik und den Umgang mit Interessenkonflikten. Daher drohe Greenwashing und eine Fehlallokation von Kapital, wie die Behörde im Januar in einem Brief an die EU-Kommission gewarnt hat. Die Divergenz der Noten laufe der Idee objektiv belastbarer Aussagen zuwider, erklären Ökonomen vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und der Universität Zürich in einem Arbeitspapier. Die Liste der Kritiker ließe sich fortsetzen.

Während klassische Ratings der großen Adressen Fitch, Moody’s und Standard & Poor’s nahe beieinander liegen, sind Nachhaltigkeitsratings oft unterschiedlich. Beliebig sind die ESG-Noten aber nicht, wie das Beispiel der Dax-Unternehmen zeigt: So schneidet Daimler über verschiedene Ratingagenturen hinweg besser ab als Volkswagen, BASF übertrumpft Bayer, Allianz die Deutsche Bank und Eon die Rivalin RWE (siehe Grafik). Doch der jeweilige Abstand der Unternehmen ist von Agentur zu Agentur unterschiedlich, ebenso Notenskala und Bewertungshöhe. Besonders deutlich ist der Unterschied, wenn Unternehmen aus verschiedenen Branchen miteinander verglichen werden: Wer Volkswagen mit RWE oder die Deutsche Bank mit Deutsche Wohnen vergleicht, erhält je nach Ratingagentur eine andere Rangfolge. Welche Unternehmen also in ein branchenübergreifendes ESG-Portfolio gehören, lässt sich anhand der Noten jedenfalls nicht eindeutig ableiten.

Der Rat an die Fondshäuser und Kapitalsammelstellen klingt so simpel wie unbefriedigend: Sie dürfen sich nicht blind auf externe Ratings verlassen. „Die Datenanbieter setzen hier – nicht zuletzt aufgrund fehlender Vorgaben – eigene Regeln“, schreibt die Unternehmensberatung Cofinpro in einem Leitfaden. Um sich ein Bild von Unternehmen zu machen, sollten Fondshäuser und Banken mehrere Datendienste nutzen, um das Risiko einer fehlerhaften Bewertung zu reduzieren, lautet die zentrale Empfehlung. „Am Ende nützen Daten nur etwas, wenn ich weiß, wie man damit umgehen soll“, sagt wiederum die auf Nachhaltigkeit spezialisierte Unternehmensberaterin Sandra Reich. Letztlich müsse jede Gesellschaft selbst ein eigenes plausibles Bild zur Nachhaltigkeit machen. Gerade kleinere Vermögensverwalter könnten sich oft nicht einen breiten Strauß an Datendiensten leisten, gibt sie zu bedenken.

Kein Konsens zur Methode

Die Datenerhebung unterscheidet sich von Agentur zu Agentur: So stützen sich einige Anbieter beispielsweise auf öffentlich zugängliche Daten, während andere Häuser Fragebögen an Unternehmen verschicken. Auch die konkrete Abgrenzung – etwa, welche Waffensysteme zur Kategorie der geächteten Streumunition zählen – kann sich unterscheiden, wie in der Fondsbranche berichtet wird.

Das Forscherteam vom MIT und der Universität Zürich hält fest, dass Ratingagenturen in einzelnen Kategorien oft zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, insbesondere in den Kategorien Produktsicherheit und Menschenrechte. Unterschiede in der Benotung gehen primär auf die Bewertung der Einzelkategorien zurück, lautet ihr Fazit. Und auch neue Berichtspflichten für Unternehmen sorgen nicht unbedingt für mehr Konsistenz: Weil das subjektive Element in der Bewertung stark sei, erhöhe sich bei steigender Datenvielfalt auch der Interpretationsspielraum im Rating, argumentieren wiederum Forscher der Universitäten Harvard und Oregon.

Darüber hinaus besteht kein Konsens, was eine ESG-Note primär aussagen soll: Für die einen ist eine Nachhaltigkeitsnote ein Gradmesser für „materielle Risiken“ in der Kapitalanlage, die etwa die Datenhäuser MSCI oder RepRisk mit ihren Notensystemen aufdecken möchten. Andere Datendienste legen das Augenmerk auf Renditechancen, etwa Sustainalytics, die auf die „langfristige Performance“ verweist, oder Arabesque, die mit dem Angebot S-Ray auf eine Outperformance zielt, also auf eine überdurchschnittliche Rendite. Wieder andere Häuser heben stärker die Bedeutung politisch weithin anerkannter Werte hervor. So bildet die deutsche Imug „international anerkannte Standards und Normen“ in ihren Ratings ab und verweist auf Leitlinien der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und der OECD sowie auf die breit gefächerten 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. All diese Ziele stehen nicht im Widerspruch, doch die Akzente sind verschieden.

Für die Zunft der Vermögensverwalter sind unterschiedliche Ergebnisse in der Analyse aber nicht per se Zeichen einer Schwäche. Gäbe es tatsächlich eine objektiv eindeutige Lösung, wäre schließlich auch eine Vielzahl an ESG-Fonds überflüssig.

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