LEITARTIKEL

De-Globalisierung

Das Ende der Globalisierung ist schon oft ausgerufen worden, allerdings haben die zentrifugalen Tendenzen seit Beginn der Finanzkrise stark zugenommen. Ein Beispiel dafür ist die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands in der vergangenen...

De-Globalisierung

Das Ende der Globalisierung ist schon oft ausgerufen worden, allerdings haben die zentrifugalen Tendenzen seit Beginn der Finanzkrise stark zugenommen. Ein Beispiel dafür ist die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands in der vergangenen Woche. Zwar sprach sich eine knappe Mehrheit für den Verbleib in Großbritannien aus. Der Erhalt der Union führte jedoch nicht etwa zu größerer Einigkeit auf der Insel, sondern zu einer Debatte darüber, ob schottische Abgeordnete auch weiterhin über die Belange Englands mitentscheiden sollten. Die Verlierer des Referendums wähnen sich bereits betrogen, denn ob es tatsächlich zur versprochenen Übertragung weiterer Kompetenzen an die Regionalregierung in Holyrood kommt, steht in den Sternen.Katalonien setzte für den 9. November eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit an. Spaniens reichster Teil will nicht mehr für Andalusien & Co. mitbezahlen. Belgien muss seine staatliche Existenz stets aufs Neue rechtfertigen. Blickt man über den europäischen Tellerrand hinaus, drängt sich Kurdistan als nächster Kandidat für die staatliche Unabhängigkeit auf.Dekolonialisierung und Demokratisierung, die Reformen von Deng Xiaoping, die Gründung und Erweiterung der Europäischen Union – all das machte die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg in einem sich gegenseitig verstärkenden Prozess zum Global Village. Als 1994 die Welthandelsorganisation WTO gegründet wurde, hatte die Konvergenz ihren Gipfel erreicht. Der blutige Zerfall Jugoslawiens konnte noch mit einem Schulterzucken abgetan werden. Ach ja, der Balkan. Das Internet eröffnete derweil schier unendliche Möglichkeiten. Mittlerweile wächst der Welthandel langsamer als die Weltwirtschaft. Die Doha-Runde ist gescheitert. Die Finanzkrise hat dafür gesorgt, dass das Hemd wieder als näher wahrgenommen wird als die Hose. Die soziale Mobilität nimmt ab, der Protektionismus nimmt zu. Die Einkommensungleichheit wächst. In den entwickelten Ländern schrumpft die Mittelklasse.In Zeiten der Unsicherheit liegt nichts näher als der Rückgriff auf die vermeintlichen Wurzeln, ob es sich dabei nun um eine ethnische Gruppe, eine Nation oder eine Religionsgemeinschaft handelt. In Großbritannien und in Deutschland befinden sich die Anti-Brüssel-Parteien im Aufwind. Und plötzlich bestimmen Territorialkonflikte das Bild. Die Annexion der Krim durch Russland und der Vormarsch von IS im Irak haben eines gemeinsam: Sie stellen bestehende Grenzen in Frage. In Europa wurde über dieses Thema seit Ende des Zweiten Weltkrieges wenig nachgedacht. IS ist dabei, die auf das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 zurückgehenden Grenzen in Nahost zu revidieren. Die Euro-Krise sorgte für ein Wiederaufflammen des Streits zwischen Großbritannien und Spanien um Gibraltar. Die Entschleunigung der chinesischen Wirtschaft zog Spannungen im Verhältnis zu Japan und im südchinesischen Meer nach sich. In Osteuropa ist eine Renaissance des völkischen Nationalismus zu beobachten. Der Zusammenbruch jeglicher Ordnung in Libyen ist nur noch eine Randnotiz, nachdem in Syrien und im Irak der Massenmord bereits begonnen hat.Würden die Finanzmärkte nicht seit Einsetzen der Finanzkrise mit billigem Zentralbankgeld geflutet, hätten diese Konflikte längst ihren Niederschlag in den Kursen gefunden. Den Ölpreis dämpft, dass sich die USA von ihrer Abhängigkeit von Ölimporten befreien konnten. Auf kurze Sicht könnten Anleger richtig liegen, die sich wenig Sorgen um die Brandherde der Welt machen. Das Abrutschen des britischen Pfund gegen den Dollar nach Bekanntwerden von Umfrageergebnissen, nach denen die Befürworter der schottischen Unabhängigkeit vorne lagen, belegt allerdings, dass auch längst bekannte und vermeintlich eingepreiste Ereignisse plötzlich auf die Stimmung drücken können. Mittel- bis langfristig wird die Volatilität zunehmen.Wohlstand für alle, universelle Menschenrechte, Gleichberechtigung von Mann und Frau – die Ideologie des Globalismus war humanistisch geprägt. Ihre Verfechter waren davon beseelt, die Menschheit zu beglücken. Der Siegeszug der UK Independence Party im boomenden Großbritannien zeigt, dass ihre Gegner nicht nur in der Rezession oder in den Armutsregionen dieser Welt gedeihen können. Wirtschaftlicher Wohlstand und liberale Werte haben sich auch in Europa entkoppelt. Die einsetzende De-Globalisierung wird nicht nur für Investoren ein schmerzhafter Prozess.——–Von Andreas HippinIn Zeiten der Unsicherheit liegt nichts näher als der Rückgriff auf die vermeintlichen Wurzeln, egal ob ethnische Gruppe, Nation oder Religionsgemeinschaft.——-