Im InterviewTim Love, GAM

"Der Zeitpunkt jetzt könnte atemberaubend sein"

Tim Love, Schwellenländerexperte bei der Schweizer Investmentgesellschaft GAM, glaubt, dass die Emerging Markets vor einem goldenen Jahrzehnt stehen. Im Interview der Börsen-Zeitung erklärt er, was ihn so optimistisch macht und warum er in Argentinien auf einen Erfolg von Javier Milei hofft.

"Der Zeitpunkt jetzt könnte atemberaubend sein"

Im Interview: Tim Love

"Der Zeitpunkt jetzt könnte atemberaubend sein"

Experte sieht perfekten Moment für Einstieg in Schwellenländer – in Argentinien sind die nächsten Wochen entscheidend

Tim Love, Schwellenländerexperte bei der Schweizer Investmentgesellschaft GAM, glaubt, dass die Emerging Markets vor einem goldenen Jahrzehnt stehen. Im Interview der Börsen-Zeitung erklärt er, was ihn so optimistisch macht und warum er in Argentinien auf einen Erfolg von Javier Milei hofft.

Mr. Love, Sie halten Schwellenländeraktien aktuell für falsch und unterbewertet und für völlig missverstanden. Sie glauben, dass nur ein „Risk-on“-­Katalysator fehlt, um das Potenzial der Papiere freizusetzen. Was für ein Katalysator könnte das sein?

Die offensichtlichen Katalysatoren für die Schwellenländermärkte sind traditionell ein Höchststand des Dollar und eine Wende bei den gewichteten Kapitalkosten durch das FOMC (Federal Open Market Committee, Anm. der Redaktion). Beide Faktoren werden innerhalb des nächsten Jahres, vorzugsweise innerhalb von sechs Monaten, eintreten und dann wird es positive Carry-Trade-Möglichkeiten, liquide Investment-Grade-Anleihen, steigende Renditen und einen ausreichend großen Spread auf den Index für Schwellenländeranleihen geben, der eine attraktive Risikorendite gegenüber Alternativen in der Welt der festverzinslichen Wertpapiere in den Industrieländern bieten kann. Ich denke daher, dass Geld aus den Industrieländern in die Schwellenländer fließt und dass dann ein positiver Kreislauf in Gang kommt.

Auf Leitzinssenkungen hoffen auch Aktionäre in den Industrieländern. Warum könnten EM-Anleger davon noch stärker profitieren?

Ein Punkt ist, dass in den USA die Erwartungen einer Zinssenkung an den Aktienmärkten bereits zu zwei Dritteln eingepreist wurde. Dort ist der Markt schon sehr weit gelaufen. Aber in den Schwellenländern haben wir aus tausend verschiedenen Gründen nicht den gleichen Aufschwung im gleichen Ausmaß erlebt. Daher sind die Emerging Markets auf der Aktienseite ein Nachzügler. Die Schwellenmärkte beruhen auf inländischen Fundamentaldaten und haben nach der großen Finanzkrise ein Jahrzehnt lang keine geldpolitische Lockerung erlebt. Sie hatten also keine Normalisierung.

Wie geht es nun weiter?

Es fängt damit an, dass die Industrieländer diskontieren und von der Normalisierung nach einer geldpolitischen Lockerungsphase profitieren. In dieser Phase sind wir nun, die Industrieländer fangen an, den Höchststand des Dollar und der Zinssätze sowie die sanfte Landung abzuwägen. Wenn das Geld dann in Alternativen fließt, wie z.B. Schwellenländerwährungen oder lokale Währungen mit anständigen Renditen, werden diese abwerten. Und wenn das vorbei ist, werden sie in den Aktienmarkt gehen, weil die Ertragsrendite im Vergleich zur Rendite der Anleihen attraktiv erscheint.

Wegen des beneidenswerten Risiko-Rendite-Verhältnisses halten Sie es für eine Gefahr, nicht investiert zu sein, da man einen jahrzehntelangen Ausbruch nach oben verpassen könnte. Was macht Sie so optimistisch?

Schwellenländer haben sich inzwischen enorm entwickelt. Im Jahr 2004 umfasste der Schwellenländer-Index nur vier Länder mit Investment-Grade-Rating unter den elf wichtigsten Ländern – heute sind es neun der elf wichtigsten Märkte. Die letzten Jahre, der Zeitraum von 2010–2023, war für Schwellenländeraktien ein verlorenes Jahrzehnt, vergleichbar mit den Jahren 1994–2004, die geprägt waren von der Asien-Krise, die auf die Mexiko-Krise und die Russland-Krise folgte. Dazu noch die Sars-Krise und anschließend die Dotcom-Blase. Danach kam es aber zu einer massiven Neubewertung der Emerging Markets.

Und an so einem Punkt stehen wir jetzt?

Ja. Die Bewertungen, die wir 2003 hatten, sind ähnlich wie die, die Emerging Markets jetzt haben. Zudem waren sie damals in Bezug auf die Erträge viel weniger attraktiv als heute. Emerging Markets sind inzwischen viel wertschöpfungsintensiver und auch ihre Erträge scheinen besser vorhersehbar zu sein. Was die attraktive Risikorendite und den Bewertungsansatz angeht, ist das Jahr 2003 aber mit dem heutigen gut vergleichbar.

Darum halten Sie es jetzt für einen guten Zeitpunkt, um in Emerging Markets zu investieren?

Ja. Eine anständige Neubewertung des KGV-Multiplikators wird die Lebensgeister der Emerging Markets bald wieder in den Vordergrund rücken, wie in den Jahren 2004–08. Und der Zeitpunkt jetzt könnte ebenso atemberaubend sein. Es ist wichtig, den Aufwärtstrend in den Schwellenländern frühzeitig zu nutzen, weil es sich hier um eine Anlageklasse handelt, die sich in einem frühen Zyklus befindet. Wenn die Märkte eine weiche Landung einkalkulieren und das globale Wachstum anzieht, dann sind die Märkte, die am ehesten anziehen, die Schwellenländer und unter ihnen insbesondere die exportorientierten industriellen Schwellenländer wie Taiwan, Korea und Mexiko, die sich verdoppeln und verdreifachen werden.

Zwischen 2003 und 2008 haben die Schwellenländer den S&P 500 nicht nur eingeholt, nachdem dieser ein Jahrzehnt lang besser abgeschnitten hatte, sondern ihn überholt. Es ist also gewissermaßen Tradition, dass die Schwellenländer zu Beginn des nächsten Zyklus in kürzester Zeit aufholen. Sie befinden sich jetzt am gleichen Bewertungseinstiegspunkt wie damals und haben sogar noch mehr Pluspunkte.

Haben Sie auch eine Erklärung dafür, warum die meisten Schwellenländer-Aktienmärkte in den letzten Jahren hinter den Industrieländern zurückblieben und nicht selten nahe bei ihren historischen Tiefständen liegen?

Die Schwellenländer wurden zuletzt von einem bestimmten Land in Mitleidenschaft gezogen und das ist China. Der Wohlstandsverlust dort war überwältigend groß, und er ist ideologisch begründet, nicht marktwirtschaftlich. Wenn man China herausrechnet, schneiden die Schwellenländer besser ab als die Industrieländer ohne die USA. Lateinamerika etwa ist letztes Jahr um 25% gestiegen.

Die Realität sieht so aus, dass sich die Menschen im Allgemeinen für das einfachste Geld entscheiden. Und das einfachste Geld sind im Moment US-Staatsanleihen mit 5% Rendite. Wenn man allerdings einen Bullenmarkt verpasst hat, wie es bei den Schwellenländern der Fall war, werden sie mit Blick auf die Risikorendite sogar noch attraktiver, weil sie wesentlich mehr vom Aufschwung abbekommen, wenn die Wende beim globalen Wachstum eintritt. Und genau an diesem Punkt befinden wir uns jetzt.

Wie schätzen Sie die weiteren Aussichten für China ein?

Die Aussichten für China sind nicht gut. Schulden, Deflation, Demografie, Arbeitslosigkeit, fehlende ausländische Direktinvestitionen, auch Kapitalkontrollen, das alles sind keine guten Indikatoren. Es gibt wahrscheinlich noch ein paar Konkurse wie bei Evergrande, bevor man den Lehman-Moment hat und der Resolution Trust das ganze System bereinigen kann.

Für China spricht, dass die Bankbilanzen entschuldet werden, das Ende der Schattenkreditgeber ist gekommen, die eiserne politische Unterstützung ist gut, die geschlossene Kapitalbilanz hilft. Es gibt auch immer noch einige sehr gute, qualitativ hochwertige Aktien in China, die unter zyklischen Gesichtspunkten interessant sind. Beispielsweise ist die Börse in Hongkong sehr attraktiv. Die Aktie ist nicht besonders billig, aber das Unternehmen hat einen soliden positiven freien Cashflow mit einer guten Dividendenrendite bei sehr guter Unternehmensführung.

Wie sind die Aussichten für Indien?

Indien ist in vielen Punkten das genaue Gegenteil von China. Die Demografie, das Schuldenprofil ist wesentlich attraktiver, die Arbeitslosigkeit ist wesentlich niedriger und die ausländischen Direktinvestitionen strömen nach Indien. Auch die Überweisungen von Indern im Ausland, die zurück in das Land fließen, sind enorm hoch. Wenn man bedenkt, dass es keine Kapitalverkehrskontrollen gibt, ist das ein Zeichen dafür, dass sie offenen Märkten vertrauen, denn das Geld will rein, nicht raus. Der Markt bestätigt damit, dass Indien geopolitisch, demografisch und konjunkturell auf dem richtigen Weg ist.

Schwellenländer punkten längst nicht mehr nur mit landwirtschaftlichen Exporten. Welche Sektoren sollten Anleger in welchen Ländern im Blick halten? Wo haben die EM Stärken, die Vielen vielleicht noch nicht so bekannt sind?

Sie haben Recht, das Ertragsprofil hat sich grundlegend geändert. Viele Menschen haben das noch nicht wirklich erkannt. Da geht es um mehr Halbleiter, viel mehr interaktive Medien und Dienstleistungen, viel mehr diversifizierte Bankangebote, E-Commerce. In Indien beispielsweise geht es nicht mehr um die alten staatlichen Telekommunikationsunternehmen, Öl- und Gas-, Bergbau- oder Stahlunternehmen. Das sind diejenigen, die im Index im Vergleich zu den anderen massiv abfallen. Die Auswirkungen der widerstandsfähigeren High-Governance-Titel spiegeln sich viel stärker im Index wider.

Für EM spricht nach Ihrer Argumentation auch, dass der Grad der Verschuldung oftmals deutlich geringer ausfällt als in Industrieländern. Wie wirkt sich das auf die Aktienmärkte aus?

Das führt zu niedrigeren Kapitalkosten für alle Unternehmen in diesem Land. Normalerweise sind die Unternehmen durch das staatliche Rating des Landes gedeckelt. Sie können also keine Kredite aufnehmen, die über dieses Rating hinausgehen. Wenn das Land also ein Double-A-Rating hat, ist das großartig. Und Schwellenländer haben im Allgemeinen eine fantastische Demografie, mit Ausnahme von China, das immer noch unter der Ein-Kind-Politik leidet. In Indien ist es genau umgekehrt. Durchschnittsalter 27, 28 Jahre. Also weniger Schulden, mehr zukünftige Steuerzahler, mehr Reformprogramme, mehr Rücküberweisungen, mehr ausländische Direktinvestitionen. Und deshalb ist es leichter, die Schulden zu bedienen.

Dazu kommt, dass Unternehmen in Schwellenländern in den letzten Jahren kaum Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten hatten. Und die lokalen Banken waren viel restriktiver bei der Vergabe von subventionierten Krediten. Deshalb sind es heute viel bessere und gesündere Unternehmen.

Was denken Sie über Argentinien und die Lage in dem Land unter dem neuen libertären Präsidenten Javier Milei?

Argentinien ist eines meiner Lieblingsthemen. Ich war erst vorletzte Woche dort und habe ein paar Wochen in dem Land verbracht. Mit Milei ist das Äquivalent eines thatcheristischen Reformisten an die Macht gekommen mit einer sehr reformorientierten und marktfreundlichen Agenda. Er hat eine Mehrheit bekommen, aber keine sehr große. Ihm ist daher klar, dass er, wenn er all diese grundlegenden Veränderungen durchsetzen will, dies schnell tun muss, denn er hat nicht viel politischen Spielraum.

Ein großes Problem ist die Inflation.

Ja. Milei ist losgezogen und hat den informellen Kurs der Währung an den formellen Kurs angeglichen und eine Abwertung von weit über 40, 50% vorgenommen. Argentinien hat aber immer noch eine monatliche Inflation im zweistelligen Bereich. Aufs Jahr gerechnet sind das also immer noch 140%. Wenn sie vor dem Hintergrund der Abwertung den offiziellen Kurs um 40% senken, bleiben ihnen etwa drei bis vier Monate, bevor sie eine weitere Abwertung vornehmen müssen. Andernfalls wird der Schwarzmarktkurs schneller wieder abwerten. Es bleibt ihm also nur ein kleines Zeitfenster. Und die letzten Nachrichten waren nicht gut. Das Omnibus-Gesetz, das Milei im Kongress durchdrücken wollte, wurde abgelehnt.

Ich halte Mileis Weg für die richtige Politik, aber es ist ein verdammt riskantes Spiel. Ich denke, dass er, nachdem er mit dem Omnibus-Gesetz untergegangen ist, ein Referendum anstreben sollte. Er hat wahrscheinlich ein sehr kurzes Zeitfenster, in dem die Öffentlichkeit wieder Ja sagen wird. In diesen, sagen wir drei Monaten, geht es um alles oder nichts. Und ich hoffe, dass er es schafft! Zum Wohle des argentinischen Volkes und der argentinischen Wirtschaft, die eine der größten der Welt sein sollte. Offen gesagt, sie sollte ein Monster sein. Das war sie um die Jahrhundertwende auch. Und es gibt keinen Grund, warum sie das nicht wieder sein sollte. Argentinien ist mit so viel gesegnet.

Zur Person: Tim Love ist als Investment Director für die Aktienstrategien von GAM in den Schwellenmärkten verantwortlich. Bevor er im Februar 2012 zu GAM wechselte, war er als leitender Portfoliomanager bei CQS/Oceanwood für das Management der Long/Short-Positionen in Schwellenmarktaktien zuständig. Zuvor managte er einen globalen Long/Short-Aktienfonds bei Cazenove Capital Management. Davor hatte Love Sell-Side-Positionen als Leiter für globale Aktienstrategien bei der Deutschen Bank, Leiter für globale Schwellenmarktstrategien bei SG Securities Ltd. und Leiter für Schwellenmarktstrategien und -research bei ING Baring Securities Ltd. inne. 

Das Interview führte Tobias Möllers.

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