TECHNISCHE ANALYSE

Nikkei als antizyklischer Überraschungskandidat

Von Jörg Scherer *) Börsen-Zeitung, 11.11.2020 Während der zurückliegenden Wochen war die US-Präsidentschaftswahl das dominierende Thema an den internationalen Aktienmärkten. Zu Wochenbeginn kamen dann aufkeimende Hoffnungen eines möglichen...

Nikkei als antizyklischer Überraschungskandidat

Von Jörg Scherer *)Während der zurückliegenden Wochen war die US-Präsidentschaftswahl das dominierende Thema an den internationalen Aktienmärkten. Zu Wochenbeginn kamen dann aufkeimende Hoffnungen eines möglichen Coronaimpfstoffes hinzu. Beim Dax schlagen sich beide Einflussfaktoren in einer Kursrally von 1 800 Punkten binnen sechs Handelstagen nieder. In solchen – stark von der Psychologie dominierten – Marktphasen tut Investoren ein Blick in die (charttechnische) Ferne gut. Gerade dann spielt die technische Analyse ihre Stärken aus, indem sie eine objektive Einschätzung ermöglicht. Deshalb möchten wir hier ganz bewusst den japanischen Nikkei 225 und den MSCI Emerging Markets auf den Prüfstand stellen. Mit 7 Prozent im PlusZunächst ist der Blick gen Osten für Anleger auch immer ein antizyklischer. Schließlich ist der Nikkei im Gegensatz zu vielen anderen Aktienbarometern – vor allem den amerikanischen – definitiv nicht heißgelaufen. Vielmehr kann sich eine ganze Investorengeneration fast gar nicht mehr an das bisherige Allzeithoch der japanischen Standardwerte von Ende 1989 bei knapp 39 000 Punkten erinnern. Aber möglicherweise liegt genau in diesem Schattendasein der Reiz der aktuellen Chartkonstellation. Bereits in den schwierigeren Börsenmonaten September und Oktober hat sich der Nikkei achtbar aus der Affäre gezogen. Im herausfordernden Aktienjahrgang 2020 steht bisher ein Plus von fast 7 % zu Buche, während der Dax beispielsweise an der Nulllinie kratzt und der Euro Stoxx 50 immer noch ein knapp zweistelliges Minus ausweist. Neues VerlaufshochRein charttechnisch konnte der Nikkei jüngst mit 25 087 Punkten ein neues Verlaufshoch verbuchen. Damit hat das Aktienbarometer möglicherweise die entscheidende Widerstandszone zu den Akten gelegt. Gemeint sind die Hochs der letzten drei Jahre bei gut 24 000 Punkten. Da die Marktteilnehmer seit Anfang 2018 hier in schöner Regelmäßigkeit der Mut verlassen hat, entstand auf diesem Niveau der ultimative charttechnische Deckel. Mit anderen Worten: Ein nachhaltiger Sprung über die angeführte Hürde sorgt für ein prozyklisches Investmentkaufsignal! Der skizzierte Befreiungsschlag besitzt den zusätzlichen Charme, dass die gesamte Kursentwicklung des Jahres 2020 somit als “V-Muster” interpretiert werden kann. Gleichzeitig sorgt dieses Chartmuster für ein zusätzliches Ausrufezeichen hinter der Bodenbildung der letzten drei Dekaden. Rückenwind erhalten die japanischen Blue Chips darüber hinaus von Seiten der quantitativen Indikatoren. Hervorheben möchten wir das relativ frische MACD-Kaufsignal vom Spätsommer sowie den Abwärtstrendbruch im Verlauf der Relativen Stärke (Levy). Die beiden Trendfolger reduzieren also das Risiko eines Fehlausbruchs auf der Oberseite.Die verschiedenen Hoch- und Tiefpunkte bei rund 27 000 Punkten definieren das nächste Anlaufziel. Aus der Tiefe des zwischenzeitlichen Kurseinbruchs des Jahres 2020 ergibt sich sogar ein langfristiges Kursziel von rund 31 000 Punkten. Danach markieren weitere horizontale Barrieren bei rund 33 000 Punkten eine weitere Widerstandszone. Einen letzten argumentativen Pfeil haben technisch motivierte Anleger noch im Köcher: den Faktor Saisonalität. Von Ende Oktober bis Anfang Mai konnte der Nikkei seit dem Jahr 1990 im Durchschnitt um rund 5 % zulegen. Aufgrund der schwierigen Marktphase der letzten 30 Jahre lässt dies besonders aufhorchen. Die Tatsache, dass auf Gesamtjahressicht sogar nur ein marginales Plus zu Buche steht, sorgt für das “i-Tüpfelchen” auf der aktuell saisonal günstigen Periode. Ausbruch aus der LethargieDer MSCI Emerging Markets weist derzeit eine deutliche Parallele zur Kursentwicklung des Nikkei auf: Aus Investorensicht war auch mit den Schwellenländeraktien kaum ein Staat zu machen. Unter großen Schwankungen bewegte sich der Index seit dem Jahr 2007 lediglich seitwärts. Doch nach einer verlorenen Dekade besteht derzeit Hoffnung auf Besserung. So konnte das Aktienbarometer zuletzt den Abwärtstrend seit Anfang 2018 (gegenwärtig bei 1 111 Punkten) überwinden. In der letzten Woche gelang zudem der Sprung über das bisherige Jahreshoch vom Januar bei 1 150 Punkten. Damit bildet der Einbruch vom Frühjahr samt der anschließenden Erholung per saldo eine sogenannte “V-Formation”. Das Anschlusspotenzial dieses Kursmusters – abgeleitet aus der Tiefe des zwischenzeitlichen Einschnitts – lässt sich auf beachtliche 400 Punkte taxieren. Auf dem Weg zum Ausschöpfen dieses Kurspotenzials definieren die Hochs von 2011 und 2018 bei 1 212/1 279 Punkten und danach vor allem das bisherige Allzeithoch bei 1 345 Punkten wichtige Etappenziele. Aber auch relativ, d. h. im Vergleich zum MSCI World, machen die Emerging Markets gegenwärtig eine gute Figur. Nach Jahren der Underperformance liegt im Ratio-Chart inzwischen eine Bodenbildung vor. Damit könnten Aktien aus Schwellenländern tatsächlich ihre verlorene Dekade überwinden. Auch abseits der dominierenden Themen sind große Veränderungsprozesse im Gang. Die technische Analyse hilft, die daraus resultierenden Investmentchancen im Auge zu behalten. *) Jörg Scherer ist Leiter technische Analyse bei HSBC Deutschland.