Moskau

Das Wohl und Übel von Sprachkenntnissen

Putins Angst vor besseren Fremdsprachenkenntnissen in der breiten Bevölkerung zeigte sich schon in seinen ersten Regierungsjahren. Dadurch wurde die Entwicklung von Tech-Riesen wie Yandex und Telegram begünstigt.

Das Wohl und Übel von Sprachkenntnissen

Es war im Jahr 2004. Aus dem Bedürfnis heraus, die Entwicklung Russlands am Ende von Wladimir Putins erster Amtszeit einmal von einer sowjetischen Dissidentin und führenden Menschenrechtlerin beurteilt zu bekommen, rief ich Jelena Bonner kurzerhand in Boston an. Was ich nicht bedachte, war der Zeitunterschied. Und so holte ich die damals 81-Jährige gegen 2.30 Uhr morgens aus dem Bett. Die studierte Ärztin und Bürgerrechtlerin blieb dennoch relativ freundlich: „Jetzt, da sie mich schon aufgeweckt haben, können wir das Interview gleich führen“, meinte sie. Was Russland betraf, war sie weitaus pessimistischer als viele Beobachter: „Es kann noch schlimmer kommen, und es wird schlimmer kommen“, sagte sie.

Warum ich mich plötzlich an diese Episode erinnere? Weil sich am vergangenen Freitag der Geburtstag von Bonners Mann, Andrej Sacharow, zum 100. Mal jährte. Der 1989 verstorbene Sacharow war der Entwickler der sowjetischen Wasserstoffbombe. Aus Reue machte er sich später für internationale Abrüstung und Kernwaffen-Kontrolle stark. Auch protestierte er gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und wurde zum Menschenrechtsaktivisten, prangerte etwa den Einmarsch in Afghanistan an und sprach sich für Demokratie und wirtschaftliche Effizienz aus. Den Friedensnobelpreis, den er 1975 erhielt, nahm seine Frau Bonner stellvertretend für ihn entgegen.

Sich an Größen und moralische Autoritäten der eigenen Geschichte wie Sacharow zu erinnern, ist heute nicht opportun. Dem Moskauer Sacharow-Zentrum, von den Machthabern so wie viele Einrichtungen und Medien als „ausländische Agenten“ gebrandmarkt, wurde die Erlaubnis zu einer Freilichtschau zu Ehren Sacharows wieder entzogen. Zu sehr erinnert Sacharows Name an Umbruch und Veränderung. Zu sehr auch an den inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, der zwischendurch wiederholt mit Sacharow verglichen wurde. Und zu sehr steht Sacharows Name für eine Öffnung des Landes hin zu mehr Demokratie und wirtschaftlicher Erneuerung.

Bei Putin muss das Wort Öffnung Horrorvorstellungen auslösen. Und zwar nicht erst jetzt, da das System hinten wie vorne versteinert ist. Sondern offenbar schon zu Beginn seiner Amtszeit. Das legt zumindest die Erzählung nahe, die Gleb Pawlowski, einst einer seiner Berater, neulich im Radio „Moskaus Echo“ kundtat. Man habe Putin damals vorgeschlagen, ein staatliches Programm zur Forcierung des Fremdsprachenerwerbs aufzulegen, um die Defizite aus der Sowjetzeit wettzumachen und auch die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten zur Zeit der Rohstoffhausse in den Nullerjahren besser zu nutzen. Putin sei dagegen gewesen, wie Pawlowski erzählte. Der Kremlchef habe nämlich Bedenken gehabt, dass bessere Fremdsprachenkenntnisse zu noch mehr Abwanderung führen würden. Da hat er offenbar weit vorausgesehen, denn der Abwanderungswunsch kam immer dann hoch, wenn die Freiheiten eingeschränkt wurden und die Wirtschaft nicht so gut lief – richtig stark etwa ab 2012. Während der Zeit der Rohstoffhausse der Nullerjahre aber fanden alle zuhause in Russland ausreichend Möglichkeiten, Wohlstand aufzubauen.

Apropos mangelnde Sprachkenntnisse in der breiten Bevölkerung (im Unterschied zur dünnen Mittelschicht wohlgemerkt, die Fremdsprachen längst exzellent beherrscht!): Dass in der Sowjetunion sehr bewusst kein Wert darauf gelegt worden sei, habe sich in den postkommunistischen Zeit als riesiger Vorteil für das Land erwiesen, meinte kürzlich ein ausländischer Investmentbanker in Moskau im Gespräch mit der Börsen-Zeitung: Dieser Umstand nämlich habe es begünstigt, dass nationale Champions in der Tech-, sprich vor allem der Plattformökonomie, entstehen konnten. In der Tat haben Riesen wie Facebook, Google oder internationale Bezahldienste in Russland einen schwereren Stand als anderswo. Die einheimische Suchmaschine Yandex etwa ist dort nach wie vor Branchenprimus. Und mit dem Messengerdienst Telegram hat der Russe Pawel Durow Whatsapp in Russland das Wasser abgegraben. Wiewohl: Durow hat das Land aufgrund der Schwierigkeiten mit dem Geheimdienst längst verlassen – und operiert von Dubai aus.