Medizintechnik

Das Lehrstück der Healthineers-Story

Siemens Healthineers hat einen Lauf: Die Investoren spendieren der Aktie Höchststände, und das Geschäft brummt. Der Marktführer überzeugt mit seiner Innovationskraft.

Das Lehrstück der Healthineers-Story

Von Michael Flämig, München

Investoren rennen Siemens Healthineers die Bude ein. An fünf der vergangenen sechs Handelstage hat der Aktienkurs zum Xetra-Handelsschluss ein Rekordhoch erklommen. Diese Rally führte den Anteilschein am Montag in der Spitze auf den Höchststand im Handelsverlauf von 67,50 Euro. Die Marktkapitalisierung erreichte mehr als 76 Mrd. Euro. Das Kursplus seit dem Kapitalmarkttag am 17. November betrug damit 12%. Wohlgemerkt: Siemens Healthineers ist kein Internet-Player, sondern ein Medizintechnikunternehmen – derartige Wertzuwächse sind in diesem Sektor nicht an der Tagesordnung. Insofern ist die Healthineers-Story ein Lehrstück darüber, wie klug genutzte Marktführerschaft gehebelt werden kann.

Der Zuspruch des Kapitalmarktes mag auf den ersten Blick erstaunen. Schließlich war den Anlegern 2018 die IPO-Story verkauft worden, dass die neue Atellica-Plattform der einst zugekauften Sparte Labordiagnostik reüssieren wird. Dies tut sie aber nicht so wie gedacht. Die Milliarden-Übernahme Varian mag aktuell schon eher als Zugpferd dienen. Doch der Strahlentherapie-Spezialist muss nach der Erstkonsolidierung 2021 erst beweisen, dass er die Fantasie der Anleger rechtfertigt.

Dies zeigt: Die Begeisterung der Investoren speist sich aus dem Kern dessen, was Siemens Healthineers schon lange ausmacht. Es ist die Sparte Imaging, die bildgebende Systeme im Angebot hat (siehe Grafik). Diese Aktivitäten lieferten im vergangenen Geschäftsjahr 55% der Erlöse und 66% des bereinigten operativen Gewinns (Ebit) von Healthineers.

Imaging ist Marktführer mit einem Anteil von 34% (ohne Ultraschall-Segment), die Konkurrenten GE und Philips sehen die Rücklichter. Die Marge liegt mit 21,1% deutlich höher als jene der anderen Healthineers-Sparten. Und nun will die Sparte jährlich 0,2 bis 0,8 Prozentpunkte draufpacken sowie den Umsatz um 5 bis 8% pro Jahr erhöhen – und der Kapitalmarkt kauft dies ab. Wie kann ein extrem erfolgreiches Geschäft nochmals verbessert werden?

Zwei Ansätze für den Erfolg

Wenn Sparten-Chef André Hartung darüber räsoniert, was das Rad des Erfolgs mit 9,8 Mrd. Euro Umsatz antreibe, kommt er gern auf eine Zahl zu sprechen: Mehr als 70% der Erlöse stammten aus Innovationen, die in den vergangenen drei Jahren eingeführt worden seien. In die Zukunft gewandt bedeutet dies, dass Wandel Pflicht ist. „Wir haben eine extrem starke Portfolio-Pipeline“, versicherte Hartung jüngst den Analysten. Doch gräbt ein Marktführer sich dabei nicht selbst das Wasser ab?

Dies muss nicht sein. Der erste Ansatz: Neue Märkte schaffen. Siemens Healthineers tut dies mit einer veränderten Generation von Magnetresonanztomografen. Der Magnetom Free.Max kann ebenso wie der Free.Star auch dort aufgestellt werden, wo es bisher keine derartigen Geräte gibt. Denn die Max-Variante ist mit einer Transporthöhe von unter zwei Metern kompakter als alle Ganzkörper-Scanner, die Healthi­neers je gebaut hat. Er kann somit installiert werden, ohne Wände erst zu durchbrechen und dann wieder aufzubauen. Zusätzlich arbeitet die Magnetom-Generation mit einer geringen Feldstärke (0,55 Tesla) – eigentlich ein Nachteil, weil die Bildqualität sinkt. Aber dies wird digital ausgeglichen. Der Vorteil: Die Lunge und Implantate können mit geringen Feldstärken gut dargestellt werden.

Während die Konkurrenz auf diesem Einsatzfeld nicht schläft, hat Siemens Healthineers bei Computertomografen (CTs) die Nase vorn. Der zweite Ansatz, eine Schippe draufzulegen, lautet an dieser Stelle: Keine Angst vor dem Risiko einer Kannibalisierung der eigenen Produkte. Dies ist bei einem Marktanteil von wohl rund 40% keine Selbstverständlichkeit. Viele Konzerne ernten lieber ihre hohen Marktführungsrenditen, als neue Geräte einzuführen.

Healthineers dagegen hat den ersten quantenzählenden CT entwickelt und damit mutmaßlich einen Wettbewerbsvorsprung von einigen Jahren. „In Zukunft wird jeder Computertomograf ein quantenzählender Computertomograf sein“, sagt der frühere Präsident der Europäischen Gesellschaft für Radiologie, Gabriel Krestin. Die Technologie wird zusätzlich in jedes Gerät integriert.

Was bringt die Neuerung? Die Röntgenfotonen werden nicht erst in Licht, sondern direkt in elektrische Signale gewandelt. Die Bilder sind schärfer und zeigen mehr Infos. Die US-Arzneimittelbehörde FDA spricht von der ersten größeren CT-Verbesserung in fast einer Dekade – ein Ritterschlag. Sparten-Chef Hartung erwartet, dass das Gerät den High-End-Markt ergänzt und ihn nicht kannibalisiert. Es werde in den ersten Jahren sehr attraktiv sein für den akademischen Sektor. Die Kliniken seien bereits dabei, Drittmittelgelder für die Anschaffung einzuwerben.

Derlei ist nicht umsonst zu haben. Die Sparte steckt 9% ihres Umsatzes wieder in die Forschung. Die weiteren Erfolgsfaktoren: eine große noch unbefriedigte Nachfrage (beispielsweise haben zwei Drittel der Bevölkerung in Niedriglohnländern keinen Zugang zu bildgebenden Systemen), ein Zwang der Kunden zur Automatisierung (15000 Radiologen fehlen in den USA), unternehmerische Freiheit (Healthineers ist ein selbständiger Konzern), ein hoher Anteil wiederkehrender Produkte (40%), der Wille zur Abgabe niedrigmargiger Geschäfte (Ultraschall), ein Service-Geschäft auf Basis der installierten Geräte (6% Umsatzwachstum pro Jahr geplant) und die offensive Expansion in künstliche Intelligenz.

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