LeitartikelWeltoffenheit

Demonstrieren reicht nicht gegen Ressentiments

Demonstrationen für Weltoffenheit sind wichtig. Aber sie werden nicht reichen. Es braucht ein Umdenken in den Großstädten.

Demonstrieren reicht nicht gegen Ressentiments

Weltoffenheit

Demonstrieren reicht nicht

Demonstrationen für Weltoffenheit sind wichtig. Aber sie werden nicht reichen. Es braucht ein Umdenken in den Großstädten.

Von Sebastian Schmid

Weder für ein Land noch für einen Menschen oder ein Unternehmen ist Isolationismus eine erfolgversprechende Strategie. Es sollte also klar sein, dass die gestiegene Salonfähigkeit fremdenfeindlicher Einstellungen in Teilen der Gesellschaft deren Wohlstand gefährdet. Die Demonstrationen hunderttausender Bürger und das klare Bekenntnis vieler Firmen für ein weltoffenes Deutschland (auch in der Börsen-Zeitung) zeugen davon, dass die große Mehrheit hierzulande verstanden hat: Unser bekanntes Leben ist ohne Zusammenarbeit über kulturelle Grenzen hinweg schlicht nicht vorstellbar.

Die Liste der Lücken, die eine umfangreichere Abwanderung zugezogener Arbeitskräfte reißen würde, ist lang. Daher hier nur ein paar Beispiele: In Bereichen wie Lebensmittelherstellung oder Hoch- und Tiefbau stammt jeder dritte Beschäftigte aus dem Ausland. Auch bei vielen Handwerksberufen oder in der Pflege liegt der Anteil weit über dem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Und auch bei der Abfertigung an Flughäfen würde die Service-Qualität ohne die Mitarbeit internationaler Kollegen rasch einbrechen – von deren Bedeutung für die Start-up-Szene ganz zu schweigen. 22% aller Gründer in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Mehr als die Hälfte von ihnen ist selbst eingewandert.

Abwanderungskosten kaum kalkulierbar

Aber hat die „Stiftung Marktwirtschaft“ nicht unlängst in ihrer Generationenbilanz nachgewiesen, dass Migration ein Kostenfaktor ist und negative Effekte hat? Nicht ganz. Im Wesentlichen wurden Fehlanreize im Sozialstaat bemängelt. Hinzu kommt, dass die Alternative eben nicht wäre, dass andere deutschstämmige Mitbürger die Jobs von Zugewanderten übernähmen. Denn die sind schlichtweg nicht da. Und wenn unzählige Jobs nicht besetzt wären, würde dies unweigerlich zu Folgekosten führen, die üppig ausfallen dürften, sich vorab indes kaum seriös kalkulieren lassen.

Demonstrationen, Plädoyers und Bekenntnisse allein scheinen zu wenig, um die Ressentiments einzudämmen. Denn der Trend zu mehr Nationalismus als Gegenbewegung zur Globalisierung ist in praktisch allen westlichen Ländern zu beobachten. Egal, ob es sich um Gesellschaften wie die USA handelt, die einen eher überschaubaren Sozialstaat haben, oder um Gesellschaften wie Schweden mit hohem Staatsanteil. Auch wer einwandert, scheint nicht der entscheidende Faktor zu sein. Die Zusammensetzung der Zugewanderten in die USA und nach Europa unterscheidet sich deutlich – die Reaktionen fallen ähnlich aus.

Urbanisierungsgrad entscheidend

Als Gemeinsamkeit zeigt sich eine Spaltung entlang des Urbanisierungsgrads. Während die Stadtbevölkerung nur in geringerem Maß offen für fremdenfeindlichen Protest ist, steigt der Wille zum Widerstand mit dem Grad der Ländlichkeit. Ein Grund sollte auf der Hand liegen. Die Zukunftsvisionen, die Politik und Unternehmen ersinnen, sind primär urbane Visionen: autofreie Innenstadt, Ausbau des ÖPNV, Windräder und Solarparks in dünn besiedelten Landstrichen, Pkw-Elektrifizierung und Wärmewende oder der Schutz des Wolfs. Was fehlt, ist eine Perspektive für Menschen, die es nicht in die großen Städte zieht, für die E-Auto und Wärmepumpe zu teuer und der ÖPNV nicht verfügbar ist.

Mehr kommunale Autonomie nötig

Womöglich wird auch die Datenlage von der Politik falsch interpretiert. Knapp 78% der Menschen leben zwar in Städten. In Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern leben aber nur 30%. Das Angebot ist also nur für eine Minderheit hoch attraktiv. Was kann die Lösung sein? Rolle rückwärts bei wichtigen Zukunftsthemen? Das wäre fatal. Gegen das ländliche Gefühl der Fremdbestimmung könnte helfen, bei einigen Themen die kommunale Autonomie zu stärken. Wieso sollte eine Gemeinde nicht selbst entscheiden können, ob der Wolf bei ihr heimisch werden darf? Oder dass auf dem platten Land das Verbrenneraus noch kein Enddatum benötigt? Das könnte dann auch die Bereitschaft zu Kompromissen bei wichtigeren Themen stärken – etwa dem regional ausgebremsten Windkraftausbau. Eine neue Austarierung der Interessen von Stadt und Land ist vonnöten – und wäre ein Mittel gegen die Proteststimmung, für mehr Weltoffenheit und damit letztlich auch mehr Wohlstand.