Notiert in BrüsselEU-Ratspräsidentschaft

Die Erfinder des Hauptnenners

Belgien kann – wie kein anderes Land in Europa – Kompromisse. Das ist auch nötig, schließlich besteht die Regierung aus sieben Parteien.

Die Erfinder des Hauptnenners

Notiert in Brüssel

Die Erfinder des Hauptnenners

Von Detlef Fechtner

Und sie haben es doch noch geschafft: Zur Überraschung des diplomatischen Publikums (und zum Entsetzen deutscher Industrieverbände) ist den Belgiern in ihrer Rolle als amtierende EU-Ratspräsidentschaft ein echter Coup gelungen, nämlich eine qualifizierte Mehrheit für das heftig umstrittene EU-Lieferkettengesetz zu organisieren.

Eigentlich hätte man es sich natürlich denken können. Denn die Belgier sind Weltmeister darin, Lösungen für unlösbare Aufgaben zu finden. Durch wildeste Konstruktionen von Regenabflussrohren, die um alle möglichen Hindernisse herumgelenkt werden. Oder durch mehrfach korrigierte Straßenmarkierungen, die einem den Weg weisen (sofern man die intellektuellen Kapazitäten eines Schach-Großmeisters hat, um sie zu verstehen). Ein besonders beeindruckendes Beispiel für die Kunst des belgischen Durchwurstelns ist die größte Dauerbaustelle der Hauptstadt, der monumentale Justizpalast. Er ist seit Jahren von einem Baugerüst eingehegt, weil er von außen runderneuert werden muss. Mittlerweile ist aber auch das Baugerüst selbst marode geworden. Die belgische Lösung: Ein zweites Gerüst stabilisiert nun das erste.

Was im Alltag oft zu Kopfschütteln Anlass bietet, verlangt in der Politik allen Respekt ab. Belgien kann – wie kein anderes Land in Europa – auch in schier unlösbaren politischen Konflikten Hindernisse durch unkonventionelle Umleitungen und Richtungswechsel umschiffen. Oder kurz gesagt: Belgien kann Kompromisse. Das Land ist quasi der Erfinder des Hauptnenners. Man trifft derzeit viele Diplomaten, die entweder auf die Belgier schimpfen oder über sie schwärmen. Denn die belgische EU-Ratspräsidentschaft ist sehr fordernd, indem sie alle EU-Partner so lange mit Nachfragen drangsaliert, bis sie ihre Vorbehalte aufgeben. Und sie ist pfiffig, indem sie immer wieder mit überraschenden Experten in Ratssitzungen auftaucht und manchen dabei überrumpelt.

Dass Belgien ein besonderes Talent zum Kompromisseschmieden hat, das übrigens in die Diplomatensprache längst als „compromis à la belge“ Einzug gefunden hat, ist allerdings auch zwingend erforderlich, denn sonst wäre das Land unregierbar. Schließlich besteht es aus drei Sprachgemeinschaften, drei Regionen, Dutzenden Provinzen und Hunderten Kommunen mit unglaublichem politischen Selbstbewusstsein. Die Regierung setzt sich aus sieben (!) Parteien zusammen – den flämischen und wallonischen Grünen, den flämischen und wallonischen Liberalen, den flämischen und wallonischen Sozialisten und den flämischen Christdemokraten. Das belgische Pendant zur „Ampel“ wird übrigens etwas romantisierend „Vivaldi“-Koalition genannt – die vier politischen Färbungen entsprechen den vier Jahreszeiten. Und ehrlicherweise hat man oft den Eindruck, dass es trotzdem besser klappt als in der Berliner Ampel, obwohl sich dort gerade einmal drei Parteien einigen müssen. Nur drei? Aus belgischer Sicht ist das Kindergeburtstag!

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