Notiert inHanau

So viele Einzelfälle

Vier Jahre ist es mittlerweile her, dass ein Rechtsterrorist neun junge Menschen in Hanau gewaltsam aus dem Leben gerissen hat. Es war mitnichten ein Einzelfall, wie auf der Gedenkdemonstration zum Jahrestag deutlich wurde.

So viele Einzelfälle

Notiert in Hanau

So viele Einzelfälle

Von Karolin Rothbart

Wenn sich 5.000 bis 8.000 Menschen an einer kleinen Straßenkreuzung in der hessischen Großstadt Hanau versammeln, dann muss der Lärmpegel unweigerlich steigen – sollte man meinen. Doch am Samstag, dem 17. Februar 2024, ist es erst mal still im Stadtteil Kesselstadt. Vier Jahre nach dem rechtsterroristischen Anschlag, bei dem ein 43-Jähriger neun junge Menschen aus rassistischen Motiven erschoss, gedenken tausende Teilnehmer auf einer Demonstration der Opfer und setzen so ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und rechte Gewalt.

„Wir haben nach den rassistischen Morden ein Versprechen abgegeben“, sagt Çetin Gültekin, der Bruder eines der Opfer und Mitglied der Initiative 19. Februar Hanau. „Es gilt weiterhin. Wir lassen nicht zu, dass die Namen der Opfer vergessen werden." Die Opfer, das sind Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Ihre Gesichter prangen auf hunderten Schildern und Bannern der Demonstrierenden, die sich im viel zu milden Winterwetter langsam in Bewegung setzen, um den Weg des Attentäters in umgekehrter Richtung durch Hanau abzuschreiten.

Dass es sich bei der Tat nicht um einen Einzelfall, sondern um die schreckliche Fortsetzung in der Serie rechtsextremer Tötungsdelikte in Deutschland handelt, zeigt ein Blick in die Menge: Auf hunderten Plakaten sind die Namen weiterer Opfer rechter Gewalt zu lesen. Laut der Amadeu Antonio Stiftung kam es seit 1990 hierzulande zu mindestens 219 Tötungsdelikten mit rechtsextremem Motiv. So auch 2016 in München, wo ein Rechtsradikaler am und im Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen erschoss. Drei Jahre später starben bei einem Anschlag in Halle zwei Menschen. Im selben Jahr wurde mit dem damaligen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erstmals ein amtierender Politiker von einem Rechtsextremisten erschossen.

Auf dem Trauerzug in Hanau wird die Botschaft irgendwann doch auch akustisch in die Welt gesendet: "So viele rechtsextreme Einzelfälle!", skandieren die Demonstrierenden. Ansonsten bleibt die Stimmung friedlich. Ein vorbeiziehendes Brautpaar, das sich gerade im Schloss Philippsruhe das Ja-Wort gegeben hat, erhält Gratulationen und Applaus.

Am Nachmittag hat die Menge den Marktplatz erreicht, wo Angehörige der Opfer in mehreren Reden zu Wort kommen. Einer nimmt Bezug auf die Abschiebefantasien deutscher Politiker – und erinnert an die Arbeiten, die vielfach von Menschen mit Migrationshintergrund erledigt werden. "Wir entsorgen euren Müll, wir kümmern uns um eure alten Mitmenschen", sagt er. Und beendet seine Rede mit einem Gedankenexperiment: "Was würde passieren, wenn sämtliche Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland einfach mal ihre Arbeit niederlegen?" Bei zuletzt mehr als fünf Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ohne deutsche Staatsangehörigkeit wäre das sicher spürbar.


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