LeitartikelEuropawahl 2024

Das unterschätzte Parlament

Das EU-Parlament hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur gegenüber der EU-Kommission emanzipiert, sondern auch gegenüber dem EU-Rat.

Das unterschätzte Parlament

Europawahl

Das unterschätzte Parlament

In Einkaufsmeilen und auf Durchfahrtsstraßen hängen in diesen Tagen wieder Plakate, auf denen Politiker um die Gunst der Wähler werben, deren Namen und Gesichter allenfalls einer ganz kleinen Minderheit der Bundesbürger vertraut sind. Mit Ausnahme von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen dürften selbst die sogenannten Spitzenkandidaten der Parteien den meisten Menschen unbekannt sein. Kein Zufall, dass die Tagesschau neulich den Bericht über die Berufung des Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten für die Europawahl, des Luxemburgers Nicolas Schmit, mit dem Titel überschrieb: „Nicolas wer?“

Es mag viele Gründe dafür geben, warum das Interesse der Bundesbürger am EU-Parlament überschaubar ist. Ein besonders gewichtiger dürfte sein, dass dem Gros der Menschen die Spielregeln europäischer Gesetzgebung ungefähr so fremd sind wie die Spielregeln beim Kricket. Unglücklicherweise führt allerdings diese Fremdheit zu einer Fehleinschätzung der politischen Rolle. Das EU-Parlament gilt vielen als schwach und unbedeutend. Das ist eine fatale Unterschätzung. Denn das Gesetzgebungsrecht und vor allem die Gesetzgebungspraxis haben sich in den vergangenen Jahren maßgeblich verändert. Durch den Lissabonner Vertrag haben die Abgeordneten in der Planung der EU-Finanzen ein gehöriges Wörtchen mitzureden. Auch ist die Zahl der Politikbereiche, in denen das EU-Parlament beteiligt werden muss, deutlich ausgeweitet worden. Der EU-Gerichtshof hat zudem dafür gesorgt, dass das EU-Parlament mitentscheidet, wo beispielsweise die künftige EU-Antigeldwäsche-Behörde ihren Sitz hat.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Noch fehlen dem EU-Parlament Kompetenzen, die in nationalstaatlichen Abgeordnetenhäusern Usus sind. Allerdings ist die EU ja auch ein Staatenverbund, kein mit Staatlichkeit ausgestatteter Bundesstaat.

Das gestärkte Selbstbewusstsein des EU-Parlaments zeigt sich darin, dass es immer häufiger die EU-Kommission vor sich hertreibt. Die Abgeordneten haben zwar nach wie vor kein Recht, Gesetzentwürfe einzubringen. Aber es gelingt ihnen, die EU-Kommission dazu zu bringen, Vorschläge zu lancieren. So wurde der milliardenschwere Geldtopf Next Generation, der gemeinsame Kredite auf europäischer Ebene erlaubt, durch Entschließungen maßgeblich vom EU-Parlament initiiert. Nicht nur gegenüber der EU-Kommission, sondern auch gegenüber dem EU-Rat hat sich das EU-Parlament in den vergangenen Jahren emanzipiert. Diplomaten und Abgeordnete in Brüssel berichten übereinstimmend, dass die Europaabgeordneten in den Schlussverhandlungen von Gesetzen, dem sogenannten Trilog, regelmäßig Forderungen gegen die Mitgliedstaaten durchsetzen.

Umso erstaunlicher, dass die Wahl der Abgeordneten von vielen Bundesbürgern mit einer gewissen Gleichgültigkeit begleitet wird. Schließlich geht es um eine Wahl, die erhebliche Weiterungen für sie hat. Immerhin: Die Sorge vor hohen Stimmenzuwächsen am rechten Rand hat zuletzt dazu geführt, dass die Wahl des EU-Parlaments in der öffentlichen Debatte mehr Aufmerksamkeit findet – nicht zuletzt auch wegen des lauten Engagements von Banken und Sparkassen beziehungsweise Unternehmen, die offensiv dafür werben, zur Wahl zu gehen. Treibender Faktor ist in vielen Fällen die Sorge, ein stärkerer Rechtsruck in der EU könne ausländische Investoren ins Grübeln über die Attraktivität des Standorts Europa bringen.

Diese Angst ist durchaus gerechtfertigt. Und zwar nicht nur, weil Konzerne aus Furcht vor Ausländerfeindlichkeit bei der Entsendung von Mitarbeitern zurückhaltender werden könnten. Sondern auch aus Sorge um die politische Stabilität. Selbst wenn die Rechtsaußen im EU-Parlament keine Mehrheiten organisieren können, hätte ihr Erstarken den Effekt, dass die Entscheidungsfähigkeit des EU-Parlaments erheblich beeinträchtigt wäre. So reichte vor zehn Jahren noch das Zusammenspiel von zwei Parteien, Christ- und Sozialdemokraten, um Gesetze zu verabschieden. Nach der Europawahl im Juni könnte es, so lassen es aktuelle Prognosen erwarten, Koalitionen von mindestens vier Parteifamilien brauchen.

Das EU-Parlament hat sich sowohl gegenüber der EU-Kommission als auch dem EU-Rat emanzipiert.

Von Detlef Fechtner