Beschlussfassung

Industrie 4.0 trifft auf Unter­nehmens­recht 0.1

Was manch einer schon länger vermutet hat, ist seit Beginn der Pandemie unübersehbar geworden: Viele Regeln im Unternehmensrecht werden den Anforderungen an moderne Kommunikation in der digitalen Welt nicht gerecht. Das liegt an Regeln, die auf die...

Industrie 4.0 trifft auf Unter­nehmens­recht 0.1

Von Tibor Fedke*)

Was manch einer schon länger vermutet hat, ist seit Beginn der Pandemie unübersehbar geworden: Viele Regeln im Unternehmensrecht werden den Anforderungen an moderne Kommunikation in der digitalen Welt nicht gerecht. Das liegt an Regeln, die auf die Zeit unmittelbar nach der Industrialisierung zurückgehen. Seit damals gilt für Unternehmen, dass Meinungsaustausch und Beschlussfassungen in physischen Treffen erfolgen. Ausnahmen sind an hohe Anforderungen geknüpft. In Anbetracht der Pandemie hat der Gesetzgeber im letzten Jahr befristet Erleichterungen für die Fassung bestimmter Gesellschafterbeschlüsse außerhalb von Versammlungen geschaffen. Diese Regelungen betreffen aber nur einen Teil der wichtigen Unternehmensformen und lassen vieles im Dunkeln. Dabei wäre ein ganzheitlicher Ansatz naheliegend und auch relativ einfach umsetzbar.

Aus Endzeit der Postkutschen

Die heute geltenden Regeln zur Meinungsbildung und Beschlussfassung der Eigentümer an Unternehmen gehen im Kern auf Regelungen zurück, die 130 bis 150 Jahre alt sind. Das lässt sich am Beispiel der GmbH illustrieren: Im GmbH-Recht gibt es seit 1892 eine Verpflichtung, „Versammlungen“ durchzuführen. Das war die Zeit, in der Postkutschen sukzessive durch Fahrräder und Kraftfahrzeuge ersetzt und die ersten Überlandtelefonleitungen installiert wurden.

Bis heute steht in § 48 GmbHG (damals § 49): Nur bei Zustimmung aller Gesellschafter ist die schriftliche Abgabe der Stimmen statt einer Versammlung möglich. D. h., eine Abstimmung per Telefon oder über ein anderes Medium, das weder Versammlung noch Textform ist, ist bis heute nicht vorgesehen. Die gängigen (Muster-)Satzungen modifizieren dies häufig nur minimal. Um sowohl den veralteten Anforderungen als auch praktischen Notwendigkeiten gerecht zu werden, werden heute vielfach zwar physische Versammlungen abgehalten, aber es wird den Gesellschaftern erlaubt, virtuell oder per Telefon an der Versammlung teilzunehmen. Denn selbst wenn nur der Protokollführer am Ort der Versammlung anwesend ist, sind die Vorgaben des GmbH-Gesetzes erfüllt. Es müssen nur alle das Recht haben, am Versammlungsort zu erscheinen. Dieses Vorgehen stößt an seine Grenzen, wenn keine Einigkeit besteht.

Im Gegensatz zur GmbH bestand beispielsweise in der Kommanditgesellschaft (KG) seit jeher Flexibilität. Hier sind formlose Abstimmungen möglich. Allerdings haben sich in der Praxis dennoch für Gesellschaftsverträge Klauseln durchgesetzt, die weitgehend das Leitbild von Präsenzveranstaltungen (aus dem GmbH- und Aktienrecht) übernehmen. Mit anderen Worten: In der herkömmlichen gesellschaftsrechtlichen Praxis sind für die Kommunikation zwischen Anteilseignern traditionelle physische Treffen die Norm. Moderne Kommunikationsformen und virtuelle Abstimmungen sind entweder gar nicht vorgesehen oder werden nur mit Einschränkungen zugelassen.

In Unternehmen gibt es neben den Anteilseignern aber auch noch zwei andere wichtige Gruppen, zu denen ein Vergleich lohnt. Für Aufsichtsgremien gilt nämlich nur im Grundsatz Gleiches. Entscheidender sind die Unterschiede: Anders als bei Gesellschafterversammlungen ist es hier zulässig, in der Satzung oder in der Geschäftsordnung vom Grundsatz der Präsenzveranstaltung abzuweichen. Zudem ist für Aufsichtsräte anerkannt, dass Videokonferenzen (nicht hingegen Telefonkonferenzen) einer Präsenzsitzung gleichstehen. Es muss also anders als für die Gesellschafter keine Präsenzveranstaltung für diejenigen Aufsichtsräte angeboten werden, die die Form der Videokonferenz nicht mögen.

Lediglich für die Unternehmensleitung ist in Deutschland anerkannt, dass jegliche Form der (informellen) Abstimmung ausreichend ist. Notwendig ist hier lediglich eine ordnungsgemäße Dokumentation der Abstimmungen.

Erst mit Ausbruch der Pandemie schien der Gesetzgeber zu bemerken, dass die alten Regeln nicht mehr taugen. In Artikel 2 des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie (Covid-19-G) gibt es nun für GmbH, AG und SE Sonderregeln, die helfen sollten, Präsenztreffen der Gesellschafter bis Ende 2021 zu vermeiden. Das gut gemeinte Gesetz hat allerdings (neben einer Reihe von offenen Detailfragen) drei grundlegende Schwachstellen.

Erstens handelte der Gesetzgeber so schnell, dass er schlicht übersah, dass heute die große Mehrzahl der Unternehmen in ihren Gesellschaftsverträgen und Satzungen detaillierte Regeln über die Abhaltung von Versammlungen­ haben. Das Covid-19-G enthält aber nur Regeln, die Ausnahmen zu den gesetzlichen Regeln selbst vorsehen. Die Anwendung der Erleichterungen des Covid-19-G auf Satzungen und Gesellschaftsverträge ist eine Auslegungsfrage, die für viele Konstellationen ungeklärt ist.

Der Gesetzgeber übersah zweitens die Notwendigkeit, für die Rechtsform der Kommanditgesellschaft Regeln zu schaffen. Hier lässt zwar das HGB auch ohne Covid-19-G alle Kommunikationsformen zu. Die gesellschaftsvertraglichen Regeln sehen aber auch für die KG häufig Präsenztreffen vor. Diese Rechtsform wird für viele deutsche Publikumsgesellschaften benutzt, insbesondere für geschlossene Fonds (Schiffsfonds, Immobilien, Beteiligungen an Solar- und Windparks). Die Geschäftsleitung solcher Unternehmen stand damit im vergangenen Jahr vor fast unlösbaren Aufgaben.

Der Gesetzgeber hat drittens für die GmbH nur schriftliche Beschlussfassungen geregelt. Er hat übersehen, dass es eine Vielzahl von Fällen gibt, in denen eine Meinungsbildung notwendig ist (Vermögensverfall, jährliche Aussprache über den Geschäftsverlauf, Antrag auf Abhaltung einer Versammlung durch eine Minderheit usw.). Wenn also die inhaltliche Aussprache notwendig wird, hilft die im Covid-19-G für die GmbH als Erleichterung geschaffene Möglichkeit, einseitig schriftliche Beschlussfassungen anzuordnen, nicht weiter. Die Geschäftsführung muss bei Aussprachebedarf weiterhin zu einer Präsenzversammlung einladen.

Gravierende Lücken

Die Analyse des Status quo zeigt: Das deutsche Gesellschaftsrecht und seine praktische Umsetzung hinkt seiner Zeit hinterher. Es gilt der Grundsatz, dass man sich treffen sollte. Moderne Kommunikationsformen werden nur am Rande und in Ausnahmefällen ermöglicht. Die Entwicklungen des letzten Jahres haben hier ein Umlenken eingeleitet, die gesetzlichen Regelungen sind aber bis zum Ende des Jahres 2021 befristet und enthalten gravierende Lücken.

Zugegeben, es gibt Reformansätze, die eine behutsame Digitalisierung im Gesellschaftsrecht zulassen. Virtuelle Gründungen einer GmbH sind mit dem Gesetz zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) seit Ende 2020 möglich. Die Regelung bleibt aber auf eine Rechtsform beschränkt und gilt nur bei sogenannten Bargründungen. Diese Reform unterstreicht im Ergebnis nur den Befund: Reformansätze bleiben bislang Stückwerk.

Eine ganzheitliche Reform läge nahe. Es wäre einfach, wie bei Aufsichtsräten auch für Gesellschaftertreffen Videokonferenzen einem Präsenztreffen gleichzustellen – für alle Rechtsformen. Aber warum damit stoppen? Wie aktuell für die Unternehmensleitung läge es nahe, für alle Gremien in Unternehmen lediglich eine dokumentierte Meinungsbildung und Einbindung aller vorzuschreiben. Die telefonische Abstimmung sollte also ebenfalls dem Präsenztreffen gleichgesetzt werden. Wie wäre es zudem mit der Möglichkeit von Online-Diskussionsforen statt physischem Meinungsaustausch? Für all das gibt es hinreichende Möglichkeiten, um die Identität der Teilnehmer an virtuellen Veranstaltungen und in Telefonkonferenzen auch bei größeren Gruppen zweifelsfrei festzustellen und damit sicherzustellen, wer zuhört, mitdiskutiert und abstimmt.

Mit anderen Worten: Wir sollten umdenken und bei Gesetzesänderungen und auch in der Beratungspraxis nicht länger in den bestehenden Systemen denken. Es gilt als ersten Schritt ganzheitlich darüber nachzudenken, welche Kommunikationsformen für kleine und große Unternehmen möglich und wünschenswert sind. Als Schritt zwei wären dann diese Kommunikationsformen für alle Rechtsformen zuzulassen.

*) Dr. Tibor Fedke (Sydney) ist Partner von Noerr in Berlin.