Heike Dorninger

„Es ist weniger ein Knappheits­problem“

Heike Dorninger von der Unternehmensberatung Boston Consulting erläutert im Gespräch mögliche globale Initiativen zur Beschleunigung von Impfprogrammen in ärmeren Ländern.

„Es ist weniger ein Knappheits­problem“

Von Sabine Wadewitz, Frankfurt

Die Versorgung von ärmeren Ländern mit Covid-Impfstoffen läuft weiterhin schleppend. Bei einer Geberkonferenz für das internationale Impfprogramm Covax sind in diesen Tagen immerhin weitere 2,4 Mrd. Dollar zusammengekommen. Damit stehen 9,6 Mrd. Dollar für Impfkampagnen in armen Ländern bereit. Das Geld reiche, um wie geplant 1,8 Milliarden Impfdosen zu kaufen, teilte die Impfinitiative Gavi mit. Die Impfstoffe, die 2021 und Anfang 2022 ausgeliefert werden könnten, sollen knapp 30% der erwachsenen Bevölkerung in mehr als 90 armen Ländern schützen. Indien werde aufgrund seiner Größe ein Fünftel der verfügbaren Dosen erhalten, heißt es.

Zuvor hatten die Vakzinhersteller Pfizer/Biontech, Moderna und Johnson & Johnson auf dem Weltgesundheitsgipfel Lieferungen von 2,3 Milliarden Dosen an Staaten mit niedrigem Einkommen zugesagt. In Afrika hat bislang gerade mal 1,87% der Bevölkerung eine erste Impfdosis erhalten.

Initiativen laufen auch auf EU-Ebe­ne. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat versprochen, aus den Mitgliedsstaaten 100 Millionen Dosen für Entwicklungsländer bereitzustellen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erläuterte jüngst bei seinem Besuch in Johannesburg auf Einladung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron eine deutsch-französische Förderinitiative zur Herstellung von Impfstoffen in Afrika. Macron sprach sich anders als die deutsche Regierung für eine temporäre Aufhebung des Patentschutzes auf Covid-Impfstoffe aus.

Die Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) hat in einer Analyse modelliert, mit welchen globalen Maßnahmen das weltweite Durchimpfen beschleunigt werden und die Pandemie bereits 2022 beendet werden könnte – und nicht erst 2024. Die Berater halten es für richtig, das Covax-Netzwerk zu nutzen, um Impfdosen an Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu verteilen. Covax habe die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Spenden ausdefiniert, könne Mehrländer-Spenden abwickeln und Impfstoffe sowie Hilfsgüter koordiniert versenden.

In den Zielländern der Covax-Initiative leben 2,7 Milliarden Menschen, erläutert Heike Dorninger, Managing Director & Partner von BCG in Wien. Sie erinnert daran, dass die hohe Diskrepanz in den Impfraten zwischen Ländern mit hohem und niedrigem Einkommen die Gefahr birgt, dass sich weltweit Mutationen des Virus verbreiten.

Beschleunigung möglich

BCG schlägt fünf Maßnahmen vor, um die Bekämpfung der Pandemie zu beschleunigen. Dazu gehören Spenden von Impfdosen durch Länder mit übermäßiger Impfstoffversorgung. Nach Modellierung von BCG werden die USA bis Ende Juli über mehr als 200 Millionen überschüssige Impfstoffdosen verfügen. „Würden diese von Covax verwendet, könnten weltweit mehr als 500000 Menschenleben gerettet werden – das bezieht sich auf den gefährdetsten Teil der Weltbevölkerung“, sagt Dorninger. Das bis Jahresende gesetzte Impfziel sei dadurch um ein bis zwei Monate zu beschleunigen. Europa habe noch keinen Überschuss aufgebaut und die Impfstoffweitergabe sei komplexer zu administrieren als in den USA, meint die Beraterin.

Dorninger geht davon aus, dass bis Ende 2021 genügend Impfstoff vorhanden sein wird, um die gesamte Weltbevölkerung zu bedienen. „Die weltweite Covid-19-Impfstoffkapazität wird in diesem Jahr voraussichtlich 22,5 Milliarden Dosen für derzeit zugelassene oder in der Zulassungsprüfung befindliche Impfstoffe erreichen“, erklärt die Beraterin. Dies würde ausreichen, um die Weltbevölkerung mit zwei Dosen und die überwiegende Mehrheit mit einem weiteren Einzeldosis-Booster zur Auffrischung oder Verbreiterung der Immunabwehr zu versorgen. Die gerechte Verteilung in der Weltbevölkerung müsse über Covax gewährleistet werden. „Es ist weniger ein Knappheitsproblem als ein Verteilungsproblem“, sagt sie.

Das derzeit auf WTO-Ebene diskutierte temporäre Aufheben des Patentschutzes für Impfstoffe hält BCG nicht für eine geeignete Maßnahme, um mit der Impfstoffproduktion voranzukommen. „Der Prozess würde dadurch wahrscheinlich eher verlangsamt“, warnt Dorninger.

Weiterer Knackpunkt ist die Logistik. BCG weist darauf hin, dass Länder mit niedrigem Einkommen Unterstützung brauchen, um die In­frastruktur für die Verteilung der Impfstoffe bereitzustellen. Es gebe zahlreiche Herausforderungen beim Rollout der Impfkampagne, beispielsweise der Mangel an Spritzen, unzureichende Kühlketten oder das Fehlen von Impf-Datensystemen – insbesondere für Zwei-Dosis-Serien.

BCG schätzt, dass die ärmeren Länder 14 Mrd. Dollar allein für die Distribution im Zuge der Impfkampagnen im Inland benötigen werden. Um diesen Bedarf an Finanzmitteln zu decken, komme Covax ins Spiel, aber auch große globale Finanzinstitutionen wie die Weltbank. Unterstützen könne der private Sektor, indem er zum Beispiel in den Betrieben Impfstraßen organisiert. Dorninger verweist auf Indien, wo 25% bis 30% der Impfdosen in Unternehmen verabreicht werden und die Firmen die Logistik bereitstellen.

Für sinnvoll hält BCG Aufklärungskampagnen zur Erhöhung der Impfbereitschaft. In allen Ländern sei eine gewisse Impfzurückhaltung, unabhängig vom nationalen Einkommensniveau, zu erkennen. „Eine koordinierte globale Kommunikation und Aufklärung der Öffentlichkeit über Fehlinformationen sei das beste Instrument zur Förderung der Impfbereitschaft, insbesondere Minderheiten, einkommensschwache und ländliche Bevölkerungsschichten müssen gezielt angesprochen werden“, sagt Dorninger.

Die Expertin erinnert daran, dass das Ziel einer globalen Immunisierung so schnell wie möglich erreicht werden sollte, um gefährliche Mutationen des Virus zu unterdrücken. Deshalb sei es entscheidend, schnell zu handeln, um in allen Ländern weltweit durchzuimpfen. Langfristig gehe es schließlich darum, die Gesundheitssysteme zu stärken. „Covid-19 wird ein dauerhaftes Thema und nicht die letzte Pandemie gewesen sein“, sagt Dorninger. Die globale Sicherheit sei abhängig von einer stärkeren internationalen Gesundheitsinfrastruktur für das fortlaufende Management der Bedrohung –  zum Beispiel um Impf-Booster gegen Mutationen zu ermöglichen.