BRANCHEN IM KLIMAWANDEL

Ökostrom wird zum Nadelöhr

Chemie muss Prozesstechnologien erst noch entwickeln und braucht dafür weitaus mehr Energie

Ökostrom wird zum Nadelöhr

Von Annette Becker, DüsseldorfEs war ein Paukenschlag, mit dem Lanxess im November aufgewartet hat. Bis 2040 will der Chemiekonzern klimaneutral werden. Damit lassen die Kölner so manchen Branchenriesen hinter sich, so dass die Botschaft nicht allerorten auf Begeisterung stieß. Beispielsweise wird moniert, dass Lanxess das Ziel letztlich auch von den politischen Rahmenbedingungen abhängig macht. Allen voran geht es dabei um Strom aus erneuerbaren Energien, der nicht nur in ausreichendem Umfang, sondern auch zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung stehen muss.Anstatt bei anderen das Haar in der Suppe zu suchen, wäre es allerdings vielerorts angebracht, an den eigenen Klimazielen zu arbeiten. Denn nicht alle Klimastrategien, welche die Chemieunternehmen verfolgen, bringen auch den gewünschten Erfolg. Das geht aus einer Studie der Beratungsgesellschaft Right based on science hervor, welche die Klimaziele der Dax-30-Unternehmen unter die Lupe genommen hat.Dabei wurde untersucht, inwieweit die Unternehmen auf Basis ihrer individuellen Klimaziele die spezifischen Sektorziele erfüllen, die die Internationale Energieagentur für die einzelnen Wirtschaftszweige errechnet hat. Demnach darf die Chemie angesichts der hohen Energieintensität 3,7 Grad Celsius zur Erderwärmung beitragen. Andere Branchen wie Telekommunikation oder Software müssen mit niedrigeren Erwärmungsvorgaben klarkommen, um in Summe die geforderten 1,75 Grad Celsius zu erreichen.Die Ergebnisse der Studie sind ernüchternd, bleibt von den Chemieunternehmen im Dax doch einzig Beiersdorf unter der 3,7-Grad-Vorgabe. Ernüchternd ist allerdings auch, dass es bei allen Chemiekonzernen so gut wie keinen Unterschied macht, ob diese ihre Klimastrategien umsetzen oder nicht. Die Differenz zum Szenario “Weiter wie bisher” ist verschwindend gering (siehe Grafik).Das heißt nun zwar nicht, dass die Unternehmen keine Anstrengungen unternähmen, um ihre Treibhausgasemissionen zu verringern. Zumal die Branche nach Angaben des Branchenverbands VCI die Treibhausgasemissionen zwischen 1990 und 2017 schon um 48 % reduziert hat. Fakt ist aber, dass sich die Erderwärmung mit den verfolgten Zielen nicht wirksam eindämmen lässt. “In der Chemieindustrie ist die Effektivität der uns bekannten Klimastrategien nicht sonderlich ausgeprägt”, stellt Nicolas Schuerhoff, Mitautor der Studie, fest.Wie Lanxess in der Studie abgeschnitten hätte, ist nicht bekannt, berücksichtigen die Kölner in ihrer Zielsetzung doch lediglich die direkten Emissionen aus eigenen Anlagen und die indirekten Emissionen aus eingekaufter Energie. Die Beratungsgesellschaft hat dagegen auch die indirekten Emissionen aus den vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsstufen miteinbezogen. Fossile Rohstoffe ersetzenLetztlich zeigt die Diskussion jedoch, wie groß der Handlungsbedarf ist. Die Unternehmen der deutschen Chemieindustrie sind für etwa 12 % der Treibhausgasemissionen der deutschen Industrie verantwortlich. Neben der Emissionsreduktion von Gasen im Produktionsprozess wie beispielsweise Lachgas, das 300-mal klimawirksamer ist als CO2, steht die Chemie vor der Herausforderung, ihren Energiebedarf künftig anders zu decken. Für die Branche mit dem höchsten Energiebedarf ist das alles andere als trivial. Ausgehend von Emissionen aus Prozessen, Energiebedarf und Produkten von 112,8 Mill. Tonnen (2020) darf keine Zeit mehr verschenkt werden. Um die Erderwärmung bis 2050 auf unter 2 Grad Celsius zu begrenzen, muss völlig neu gedacht werden. Es müssen Wege gefunden werden, um den Einsatz fossiler Rohstoffe zu ersetzen und Kohlenstoff in den Kreislauf zurückzuführen. Das veranschaulichen die nackten Zahlen: 16 % des Mineralölaufkommens in Deutschland werden in der Chemie verwendet, die Branche deckt damit 75 % ihres organischen Rohstoffbedarfs. Im Fokus stehen die Hersteller von Basischemikalien. Zugleich müssen die Chemiekonzerne daran arbeiten, ihren immensen Energiebedarf nicht nur zu optimieren, sondern auch auf Strom und Wärme aus erneuerbaren Energien umzustellen. Der VCI hat von Dechema und Futurecamp eine Studie erstellen lassen, um herauszufinden, ob die chemische Industrie in Deutschland bis 2050 treibhausgasneutral werden kann und was dafür notwendig ist. Die sogenannte Roadmap beschreibt den Weg zur Treibhausgasneutralität von 2020 bis 2050 in drei Pfaden. Zum Ziel führt allerdings nur der anspruchsvolle Pfad “Treibhausgasneutralität”.Der Referenzpfad, bei dem auf Basis heutiger Technologien produziert und nur an der Effizienz gearbeitet wird, führt bis 2050 lediglich zu einer Reduktion der Treibhausgasemissionen um 27 % auf gut 82 Mill. Tonnen. Der “Technologiepfad” führt dagegen zu einer deutlich stärkeren Treibhausgasminderung auf 44,4 Mill. Tonnen bis 2050. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Chemieindustrie mit Investitionen in neue Prozesstechnologien in Vorleistung geht. Gemäß der Studie wären bis 2050 zusätzlich 15 Mrd. Euro nur für die Markteinführung (ohne Entwicklungskosten) erforderlich. Erschwerend kommt hinzu, dass die Umstellung der Prozesse den Bedarf an erneuerbarem Strom immens erhöht. Von 2040 an wird mit einem jährlichen Bedarf von 224 (2018: 54) Terawattstunden (TWh) kalkuliert. Das entspricht in etwa der gesamten 2018 in Deutschland produzierten Menge erneuerbaren Stroms.Im Pfad Treibhausgasneutralität fallen dagegen alle Restriktionen weg. Konkret würden neue Technologien eingesetzt, wenn sich daraus eine CO2-Ersparnis ergibt – unabhängig von der Wirtschaftlichkeit. Das hieße, dass zwischen 2035 und 2050 alle konventionellen Verfahren der Basischemie durch alternative Verfahren ohne CO2-Emissionen ersetzt würden. In diesem Szenario wären Zusatzinvestitionen von 45 Mrd. Euro erforderlich, zugleich stiege der Bedarf an erneuerbarem Strom von Mitte 2030 an auf 628 TWh jährlich.