Torsten Derr

„Wir kommen mit Rekord­geschwindigkeit voran“

Der Vorstandschef des Kohlefaserspezialisten zu Restrukturierung, Kulturwandel, Geschäftszielen und den Potenzialen der E-Mobilität

„Wir kommen mit Rekord­geschwindigkeit voran“

Helmut Kipp
Herr Derr,

Sie sind jetzt seit einem Jahr Vorstandschef von SGL Carbon. Wie fällt Ihre Bilanz aus?

Nach der Bestellung durch den Aufsichtsrat hatte ich bis Amtsantritt vier Monate Vorlauf. Da konnte ich mir die Firma intensiv anschauen. Ich habe mich tief in die Technik eingearbeitet, die wesentlichen Standorte besichtigt, das Management gesprochen und als Gast an Aufsichtsratssitzungen teilgenommen. Dadurch wurde es möglich, bei Amtsantritt schnell zu agieren. Wir kommen bei der Restrukturierung mit Rekordgeschwindigkeit voran. Mit dem Erreichten bin ich sehr zufrieden. Nach heutigem Stand und wenn die Marktgegebenheiten so bleiben, könnten wir unsere Ziele sogar übertreffen.

In welchen Bereichen waren die Strukturen besonders ineffizient?

In der Verwaltung und bei der Struktur der Geschäftsfelder. Die Verwaltung war einfach zu groß, gemessen am Umsatz von 1 Mrd. Euro. Daher haben wir sie von 20 auf zehn Funktionen zurückgeschnitten und verringern das Personal um 20 bis 30%. Jetzt arbeiten wir daran, die Prozesse deutlich zu vereinfachen, damit die Komplexität der Abläufe unserer Größe entspricht. Die Zahl der Geschäftsfelder haben wir dagegen aus Transparenz- und Performancegründen von zwei auf vier erhöht. Zudem mussten wir im Segment Carbonfasern im vierten Quartal 2020 Wertberichtigungen von 106,5 Mill. Euro vornehmen.

Die Wertminderung spiegelt nur die bilanzielle Seite. Was ist operativ zu tun?

Das Impairment war notwendig, weil die alten Business-Pläne nicht zu erreichen waren. Die Carbonfaser-Wertschöpfungskette und -Kapazität wurde seinerzeit aufgebaut, um BMW zu beliefern. Die ganze Außenkarosserie des i3 wird nämlich aus Carbonfaser-Composites gebaut. Dieses Vorgehen hat BMW aber nicht auf andere Fahrzeuge übertragen, und die i3-Fertigung läuft früher oder später aus. Auch wenn wir an anderer Stelle mit der Elektromobilität gute, neue Geschäfte machen, entfällt damit ein bedeutender Auftrag. Jetzt müssen wir alle Hebel ziehen: Kosten runter, Auslastung der Anlagen erhöhen, Preise anheben. Und wir müssen neue Märkte für unsere Carbonfasern begeistern.

Gibt es bereits weitere Kunden?

Der Green Deal der EU kommt uns entgegen. Die Carbonfasern, die bisher an BMW geliefert werden, braucht künftig der Windenergiemarkt. Die Kunst ist jetzt, die Parameter so zu verändern, dass wir den Bereich in profitables Wachstum überführen, was uns erfreulicherweise immer besser gelingt.

Was bleibt von den Verkäufen an BMW, Ihrem Großaktionär?

BMW bleibt neben anderen ein großer Kunde. Es gibt nach wie vor viele Projekte mit dem Konzern. Nur das Konzept des i3, die ganze Karosserie aus Carbon zu fertigen, ist hinfällig. Carbon wird nicht mehr großflächig angewendet, sondern dort, wo man es braucht, etwa in Form von Carbonfaserstäben, die im Spritzguss in den Fahrzeugrahmen eingebaut werden. Dort kommen Stabilität und mechanische Stärken von Carbon voll zum Tragen. Die Autoindustrie bleibt ein zukunftsträchtiges Kernsegment von SGL.

Wie weit sind Sie mit der Restrukturierung?

Das ganze Programm haben wir in mittlerweile über 750 Teilprojekte aufgeteilt mit jeweiligen Einsparzielen zwischen 500 Euro bis 20 Mill. Euro. 60% der Projekte sind bereits umgesetzt. Wir sind also schon ziemlich weit. Für jede Initiative gibt es einen Meilensteinplan und einen Verantwortlichen, der alle zwei, drei Wochen in einem Lenkungsausschuss darlegen muss, ob er zu seinem Einsparziel steht und wie gegebenenfalls Abweichungen kompensiert werden sollen. Unter dem Strich liegen die Zielverfehlungen unter 1%. Daher bin ich sehr optimistisch, dass die Restrukturierung wirklich nachhaltig ist. Das Programm ist zudem eine wirkliche Transformation. Diese folgt vier Leitlinien, die in jedem Besprechungsraum aushängen. Sie lauten: Geschäft geht vor, also Fokus auf Profitabilität, Einfachheit wagen, Versprechungen halten und schnell handeln. Diese Regeln helfen enorm bei der Umsetzung und sorgen für Akzeptanz in der Belegschaft. Damit kann man unsere Firma gut drehen und eine neue Kultur des Handelns etablieren.

In Summe soll das Programm bis 2023 Einsparungen von mehr als 100 Mill. Euro im Jahr bringen?

Dieses Ziel bestätige ich. Ein großer Teil der Einsparungen besteht aus Personalabbau. Wir müssen auch die Belegschaft dem Bedarf anpassen. Mehr als 500 Stellen sollen wegfallen. Von 390 Mitarbeitern haben wir uns bereits getrennt.

Mit der Umstrukturierung in vier Segmente wollen Sie eine volle Ergebnisverantwortung für die Geschäftsbereichsleiter einführen. Gab es die vorher nicht?

Bisher hatte die SGL zwei Geschäftseinheiten. Es gab zwar eine Ergebnisverantwortung, die aber durch Funktionen wie Zentralforschung und zentrale Analytik überlagert wurde. Zudem hatten einzelne Standorte eine eigene Ertragsrechnung. Nun sind die Sites eindeutig den Segmenten zugeordnet, die zentrale Forschung wurde aufgelöst und wo sinnvoll in die Geschäftseinheiten integriert. SGL hat jetzt vier Firmen in der Firma, jeweils mit eigener Gewinn-und-Verlust-Rechnung. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel Kreativität und Verantwortungsbewusstsein solch eine Veränderung auslöst. Dinge, die man früher als strategisch bezeichnet hat, gelten auf einmal als Ballast und werden bereinigt.

Nach welchen Kenngrößen steuern Sie den Konzern?

Die entscheidende Kennzahl ist Ebitda pre, also das Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen, bereinigt um Sondereinflüsse. Sie gilt auf allen Ebenen und wird auch runtergebrochen auf die Segmente an den Kapitalmarkt kommuniziert. Die Zielvereinbarungen der verantwortlichen Mitarbeiter hängen ebenfalls am bereinigten Ebitda. Die Folge ist, dass Mitarbeiter, Vorstand und Aktionäre in einem Boot sitzen. Das ist die fundamentale Änderung: Alle rudern in eine Richtung.

SGL hat schon viele Restrukturierungen durchgemacht. Warum sollte Ihre dauerhafter wirken als frühere Sanierungen?

Weil unsere Kultur sich spürbar ändert. Versprochene Einsparziele müssen eingehalten werden, egal ob der Markt anzieht oder nicht. Ich steuere die Firma nach drei Regeln: liefern, liefern, liefern. Dem Unternehmen tut das Konsequentsein gut. Früher wurde am Ende eines konjunkturellen Abschwungs bereits wieder in den Wachstumsmodus umgeschaltet und die Ausgaben hochgefahren. Das werde ich nicht zulassen, Profitabilität und Free Cash-flow stehen klar im Fokus.

Stehen einzelne Segmente zum Verkauf?

Daran haben wir derzeit kein Interesse. Aber grundsätzlich gibt es die Möglichkeit dazu. Die Einzelfirmen, bei denen es sich um Berichtssegmente handelt, nicht um rechtlich selbstständige Gesellschaften, sind sortenrein geschnitten. Es gibt keine Asset- und kaum Kundenüberlappungen.

Besteht die Gefahr, dass nach dem hohen Fehlbetrag im vergangenen Jahr abermals ein dicker Verlust anfällt?

Ganz klar: Nein! Es bleibt bei der veröffentlichten Prognose. Alle Zahlen des ersten Quartals liegen im grünen Bereich. Auch April und Mai sind im Rahmen der Planung verlaufen. Das Nettoergebnis der fortgeführten Aktivitäten erwarten wir für 2021 zwischen 0 und −20 Mill. Euro. Das bereinigte Ebitda soll von 92,8 Mill. Euro im Vorjahr auf 100 Mill. bis 120 Mill. Euro steigen.

Wie bewerten Sie Liquidität und Verschuldung?

Im vergangenen Sommer waren netto nur zwischen 80 Mill. und 90 Mill. Euro in der Kasse. Da habe ich nicht so gut geschlafen. Die Restrukturierung hat aber in hohem Maße Liquidität generiert, etwa durch den Abbau von Working Capital. Durch Grundstücksverkäufe und andere Einmaleffekte sind weitere 30 Mill. bis 35 Mill. Euro hereingekommen. So ist bis Jahresende ein Liquiditätspuffer von 142 Mill. Euro entstanden. Ende des ersten Quartals 2021 waren es bereits 169 Mill. Euro. Damit kann man bestens schlafen. Vorstand und Mitarbeiter sind stolz, diese Herausforderung mit Bravour gemeistert zu haben.

Und die Schulden?

Das Fremdkapital besteht aus drei Elementen: eine Wandelanleihe über 159 Mill. Euro, die im September 2023 fällig wird, ein Bond über 250 Mill. Euro mit Fälligkeit im September 2024 und als Reserve ein nicht gezogener syndizierter Bankkredit über 175 Mill. Euro. Dass der Wandler in Aktien getauscht wird, ist unwahrscheinlich. Somit steht 2023 die nächste Refinanzierung an. Bis dahin ist ausreichend Zeit, um Cash-flow und Kostenersparnisse zu generieren sowie Preise und Margen zu verbessern. Über die Rückzahlung mache ich mir keinerlei Sorgen.

Das Rating bleibt aber mit CCC+ bei S&P und Caa1 bei Moody’s sehr schwach. Diese Einstufung zeigt signifikante Risiken für Kreditausfälle an.

Unsere Entwicklung ist deutlich besser, als es im Rating zum Ausdruck kommt. Aber ich kann die Skepsis der Agenturen verstehen, weil die SGL in der Vergangenheit die Ziele häufig verfehlt hat. Wir müssen erst wieder Vertrauen aufbauen. Wir müssen liefern, dann wird sich auch das Rating verbessern.

Macht Ihnen die niedrige Eigenkapitalquote von 20% Sorge?

Das ist der Fluch des Impairments. Die Wertkorrektur hat das Eigenkapital geschmälert. Nun ist es, wie es ist. Der Wert ist aber nicht besorgniserregend. Eine Kapitalerhöhung ist derzeit nicht geplant.

Reicht die Finanzkraft, um Akquisitionen zu tätigen?

Übernahmen haben derzeit keine Priorität. Sie führen oftmals dazu, dass die Komplexität steigt. Das will ich vermeiden.

Wann ist an eine Dividende zu denken?

Wir wollen Werte für die Aktionäre schaffen. Nach sieben Jahren mit Mittelabflüssen muss der freie Cash-flow positiv werden. Wenn die Hausaufgaben gemacht sind, werden wir überlegen, ob man eine Dividende zahlt oder die Mittel in Investitionen steckt, die schnell Früchte tragen. Dies bietet weiteres Potenzial für den Aktienkurs und könnte für die Aktionäre der bessere Weg sein. Der größte Hebel besteht darin, die unterausgelasteten Anlagen unter Volldampf zu bringen.

Welche Ziele streben Sie mittelfristig an?

Der Fünfjahresplan sieht eine bereinigte Ebitda-Marge von 15 bis 18% im Jahr 2025 vor. 2020 waren es 10,1%. Der Umsatz soll zwischen 1,2 Mrd. und 1,3 Mrd. Euro liegen nach 919 Mill. Euro im vergangenen Jahr. Diese Ziele wollen wir mit Bordmitteln erreichen. Das große Zukunftsthema E-Auto-Batterien ist in diesem Ausblick bewusst noch außen vor.

Was ist da geplant?

Für die Anode der Lithium-Ionen-Batterien braucht man unter anderem unseren Grafit. Hier entsteht ein riesiger Bedarf, da die Autohersteller ihre Fahrzeugflotten elektrifizieren. Ford in Europa und Volvo wollen ab 2030 nur noch Elektroautos anbieten. Volkswagen und BMW haben ebenfalls sehr ehrgeizige Ziele. Dafür benötigen die Autobauer riesige Mengen Batterien und grünen Strom. Bei beiden Themen sind wir mit dabei. Allein in Europa sind 27 Batteriefabriken geplant. Für die Projektverantwortlichen sind wir ein gesuchter Ansprechpartner. Derzeit kommt das Graphitanodenmaterial vor allem aus Asien, aber auch dort wächst der Bedarf rasant. Daher muss Europa eigene Wertschöpfungsketten aufbauen, um Liefersicherheit und Innovationsfähigkeit zu sichern. Der Bund und Bayern fördern die Weiterentwicklung unserer Technologie mit 43 Mill. Euro. Am Standort Meitingen haben wir ein Batterielabor aufgebaut, um eigenes Know-how in dem Bereich aufzubauen. SGL Carbon ist da in der Poleposition. Es dauert aber noch, bis die Batterieproduktion in Europa voll anläuft. Ab 2024/25 wird die Fertigung massiv zunehmen.

Welches Volumen kann das Geschäft mit Graphitanodenmaterial für SGL erreichen?

Das lässt sich heute nicht absehen. Klar ist aber: Das ist ein großes Ding. Die Batterieprojekte sind ein Game-Changer für die SGL. Da reden wir von Investitionen von 100 Mill. oder 200 Mill. Euro pro Werk. Man braucht etwa 800 bis 1000 Tonnen Anodenmaterial pro Gigawattstunde (GWh) Batteriekapazität. Eine typische Gigafactory hat zwischen 24 und 40 GWh. Von den derzeit in Europa geplanten 27 Projekten zielt rund die Hälfte auf diese oder sogar noch größere Dimensionen ab.

Welches Geschäftspotenzial erwarten Sie bei grünem Strom?

Der stark wachsende grüne Strombedarf kann letztlich nur durch Windkraft gedeckt werden. Inzwischen werden Windturbinen vor allem im Offshore-Bereich immer häufiger mit Flügellängen von mehr als 100 Metern gebaut. In den nächsten Jahren könnten die Flügellängen auf bis zu 150 Meter steigen. Bisher werden die meisten Flügel größtenteils aus mit glasfaserverstärktem Kunststoff gebaut. Die zunehmend größer werdenden Flügel erfordern den Einsatz von Carbonfasern, da Glasfasern allein den Belastungen nicht standhalten. Die Wachstumserwartungen in der Windindustrie sind nach wie vor zweistellig. Der Offshore-Windmarkt wächst in diesem Jahr um 30 bis 40%. SGL wird an diesem Wachstum partizipieren.

Das Interview führte .

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.