Grüne Transformation

Alternative Rohstoffe eignen sich nicht für grüne Schnellschüsse

Die Transformation der Chemieindustrie wird Dekaden dauern. Der Zeitpunkt für den Umbau ist aber erst jetzt gekommen, weil alle an einem Strang ziehen.

Alternative Rohstoffe eignen sich nicht für grüne Schnellschüsse

Aus Löwenzahn Autoreifen herstellen – welch verrückte Idee! Doch so aberwitzig das im ersten Moment auch klingt, ein interdisziplinäres Projektteam, dem Forscher der Universität Münster, des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie IME und von Continental angehören, hat genau das getan. Seit zehn Jahren wird am „Taraxacum koksaghyz“ geforscht, so heißt der Russische Löwenzahn mit botanischem Namen. Abgezielt wird dabei auf die Wurzel, aus welcher der Naturkautschuk gewonnen wird. Seit 2019 fertigt Continental den Fahrradreifen „Urban Taraxagum“ in Serie. Bis auch Pkw-Reifen mit Löwenzahnkautschuk in Serie vom Band rollen, werde es jedoch noch bis ins nächste Jahrzehnt dauern, sagt Carla Recker, die in der Forschungsabteilung des Autozulieferers Continental das Expertenfeld Materialchemie und Taraxagum leitet, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung.

Gleichwohl ist das Forschungsprojekt, das in diesem Jahr für den Deutschen Zukunftspreis nominiert war, beispielgebend für das, was auf die Chemieindustrie im Zuge der grünen Transformation zukommt. Allen voran ist langer Atem nötig. Denn es gilt ja nicht nur alternative Rohstoffe aufzuspüren und ihre Eignung im Labor nachzuweisen. Vielmehr kommt es darauf an, nachhaltige Produkte im Industriemaßstab herzustellen.

Aus Unkraut wird Kulturpflanze

An diesem Punkt ist Continental auch nach zehn Jahren noch nicht angelangt. Das liegt keineswegs an den Fähigkeiten der Forscher, sondern an der Komplexität des Projekts. „Wir müssen die gesamte Wertschöpfungskette bespielen, von der Saatgutproduktion bis hin zur Extraktion des Löwenzahnkautschuks“, umreißt Recker das Ausmaß und betont: „Bis wir Naturkautschuk aus Löwenzahn industrialisieren können, muss noch viel getan werden.“ Das begann schon damit, dass die Menge des in den Wurzeln der Wildpflanze vorkommenden Kautschuks für die industrielle Produktion nicht taugte. Molekularbiologen mussten sich also erst einmal daranmachen, neues Löwenzahnsaatgut mit kräftigeren Wurzeln zu züchten. „Wir wollen aus einem Unkraut eine Kulturpflanze machen“, beschreibt die promovierte Chemikerin. Das letzte Mal sei das vor 150 Jahren mit der Zuckerrübe exerziert worden, und an der werde bis heute geforscht.

Dabei ist der Naturkautschuk nur einer der Bestandteile eines Reifens, die anderen Rohstoffe werden noch auf konventionellem Weg erzeugt. In einem Pkw-Reifen sind 15 bis 20 verschiedene Kautschukmischungen verarbeitet, hinzu kommen Füllstoffe, Weichmacher und das Vernetzungssystem. Natürlich verfolgt Continental das Ziel, „bis spätestens 2050 alle unsere Reifen entweder aus erneuerten oder aus recycelten Materialien“ herzustellen. Mit dem Russischen Löwenzahn ist aber zumindest ein erster Aufschlag gelungen.

Langfristig hat sich die Chemieindustrie vorgenommen, vom Einsatz fossiler Rohstoffe wegzukommen. „Wichtig ist aber auch Offenheit für Zwischenlösungen mit Schritten in die richtige Richtung“, weiß Christian Hässler, Leiter der Kreislaufwirtschaftsstrategie bei Covestro. Die CO2-Emissionen in der Chemieindustrie kommen vor allem von den Rohstoffen, allen voran von Erdölderivaten, die in der Produktion eingesetzt werden. Bei Covestro beispielsweise machen alternative Rohstoffe heute nur einen kleinen Prozentsatz am gesamten Rohstoffeinsatz aus, der weit überwiegende Teil basiert noch auf Erdöl. Doch Vorsicht: Alternative Rohstoffe sind nicht notwendigerweise nachwachsende Rohstoffe, sondern Rohstoffe, die nicht auf Öl basieren. Neben biobasiert kann es dabei um abfallbasierte Rohstoffe gehen oder um CO2, beispielsweise aus Industrieabgasen. „Langfristig wollen wir keinen neuen Kohlenstoff mehr in Umlauf bringen, sondern Kohlenstoff erneuerbar machen“, formuliert Hässler das Ziel. Der Verband der Chemischen Industrie schlüsselt den stofflichen Einsatz nach Herkunftsart auf: Demnach entfielen im Jahr 2019 vom stofflichen Einsatz von 19,4 Millionen Tonnen 69% auf Rohbenzin und andere Erdölderivate, 16% auf Erdgas, 13% auf nachwachsende Rohstoffe und 2% auf Kohle. Angesichts dieser Größenordnungen ist klar, dass es beim Umbau der Industrie vor allem auf Massenprodukte ankommt, um messbare Effekte zu erzielen.

„Ziel ist, möglichst in die Breite der Produktpalette zu gehen“, sagt Hässler. „Wir wollen möglichst viel Menge auf Basis alternativer Rohstoffe erzeugen.“ Das heißt im Umkehrschluss: Es geht zuvorderst nicht darum, Produkte zu 100% aus alternativen Rohstoffen herzustellen. Entsprechend große Bedeutung kommt daher dem Massenbilanzverfahren zu, in dem recycelte oder biobasierte Rohstoffe zusammen mit konventionellen Rohstoffen in die Produktion eingespeist und rechnerisch den Endprodukten zugeordnet werden. Das Zurechnungsverfahren wird von unabhängigen Instituten zertifiziert – das ist wichtig für die Glaubwürdigkeit – und ist vergleichbar mit dem von grünem Strom.

Aus ökonomischen Gründen ist es dagegen bedeutsam, dass Produkte, die alternative Rohstoffe enthalten, auf den bisherigen Produktionsanlagen hergestellt werden können. Denn dadurch entstehen nur für die alternativen Rohstoffe Zusatzkosten. Auch aus Kundensicht ist das von Vorteil, denn die so produzierten Produkte bleiben in Produktqualität und -eigenschaften vergleichbar bei verringertem CO2-Fußabdruck. Nach vorn geblickt dürfte der Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen zwar zunehmen, der größte Kohlenstofflieferant der Zukunft dürfte für die Chemie jedoch CO2 sein. „Verwendet man CO2 aus der Luft, ist das ideal“, sagt Hässler. Würden Industrieabgase eingesetzt, könne nur der Ausstoß der industriellen Wertschöpfungskette gemindert werden. Die Technologien dürfe man dennoch nicht verwerfen. Zumal Lösungen, die ausschließlich auf CO2 aus der Luft zurückgriffen, heute noch zu teuer seien.

In einem Boot

Da die Wertschöpfungsketten in der Chemie sehr komplex sind, kommt Partnerschaften und Allianzen ebenfalls eine große Bedeutung zu. Natürlich gilt es dabei auch immer die kartellrechtlichen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, doch nehmen die verschiedenen Chemiekonzerne in der jeweiligen Wertschöpfungskette häufig unterschiedliche Rollen ein. „Die Chemieunternehmen sitzen in einem Boot“, ist Hässler überzeugt und wirbt dafür, auch technologisch nach Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu suchen, denn die Branche in ihrer Gesamtheit stelle mehr auf die Beine als jedes Unternehmen für sich.

Im Fall des Löwenzahnkautschuks geht das gleichwohl nicht, gibt es in Europa doch keine Kautschuk produzierende Industrie, die einen Platz in der Wertschöpfungskette einnehmen könnte. „Mit der Entscheidung, den Löwenzahnkautschuk nutzbar zu machen, hat Continental so eine Art Adoptivelternrolle für die Prozessschritte übernommen“, sagt Recker.

Klar ist aber, dass es Jahrzehnte dauern wird, bevor die Chemieindustrie ohne den Einsatz fossiler Rohstoffe auskommen wird. „Insgesamt sind wir nicht zu spät, sondern es ist erst jetzt richtig möglich, den Push zu erzeugen“, ist Hässler überzeugt. Denn die Transformation könne nur gelingen, wenn „alle Stakeholder an einem Strang ziehen – die Finanzmärkte, die Kunden, die Gesellschaft, die Politik und natürlich auch die Unternehmen“.

Von Annette Becker, Düsseldorf

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