Brexit hält Deutschlands Unternehmen in Atem

Für Linde ist UK zweitgrößter Markt - Dialog Semiconductor stellt Standortfrage - Südzucker und MVV betreiben Werke auf der Insel

Brexit hält Deutschlands Unternehmen in Atem

BZ Frankfurt – Der Brexit hält neben Banken und Großkonzernen aus Deutschland auch viele börsennotierte Mittelständler in Atem. Am Montag äußerten sich auch der Dax-Konzern Linde sowie Opel zu den Folgen für das eigene Geschäft. Für Linde in München ist Großbritannien hinter den USA der zweitgrößte Markt. Mit 1,7 Mrd. Euro machte die Insel im vergangenen Jahr fast ein Zehntel des Konzernumsatzes aus.Vor zehn Jahren hatte der Konzern den britischen Konkurrenten BOC übernommen. Linde betont, dass es sich um lokales Geschäft handelt. Zölle träfen Linde deshalb nicht. Ein schwächeres Pfund hätte in erster Linie einen Translationseffekt: Der Umsatz in Euro würde sinken, bei stabiler Marge auch das Ergebnis. Linde will sich von der britischen Kühllogistikfirma Gist trennen. Ob der Brexit einen Verkauf des Geschäfts mit einem Jahresumsatz von mehr als 600 Mill. Euro erschwert, lässt sich nicht absehen. Sitz im britischen ReadingDer Halbleiterhersteller Dialog Semiconductor muss sich bei einem Austritt Großbritanniens aus der EU möglicherweise die Standortfrage stellen: Der Konzern hat seinen operativen Sitz im britischen Reading und die Verwaltungszentrale im schwäbischen Kirchheim unter Teck/Nabern. “Dialog Semiconductor erzielt den Großteil seiner Umsätze außerhalb von Europa, vor allem in Asien. Daher hat der Brexit keine Auswirkungen auf das operative Geschäft”, heißt es aus Unternehmenskreisen. Produzieren lässt Dialog vor allem in Taiwan, die größten Kunden sind Apple, Samsung und andere, vorwiegend asiatische, Hersteller von Smartphones. Allerdings arbeiten 69 % der insgesamt 1 660 Beschäftigten in Europa. Mit Aussagen über Konsequenzen für die beiden Stammsitze ist der Konzern daher vorsichtig. Es sei “noch unklar, wie Gesetzgebung und Regulierung künftig aussehen werden”, heißt es. Pizzen aus WesthoughtonFür Südzucker birgt der Brexit für die Vertriebsgesellschaften und die Produktionsstandorte in Großbritannien zusätzliche Risiken. Der Lebensmittelkonzern unterhält drei Fabriken auf der Insel, die gemäß einem Sprecher fast ausschließlich für den britischen Markt produzieren. Zwei der drei Standorte werden dem Segment Spezialitäten zugeordnet: In Westhoughton stellen rund 850 Menschen für die Südzucker-Tochter Stateside Foods Tiefkühlpizzen her, und in Telford – ebenso wie Westhoughton in Mittelengland gelegen – produzieren etwa 140 Mitarbeiter der Tochter Single Source Portionsartikel. Der dritte Standort ist Wilton im Nordosten Englands, wo die deutsche Südzucker-Tochter Cropenergies über ihre 2013 erworbene Tochter Ensus zirka 90 Mitarbeiter beschäftigt. Allerdings ist die dortige Bioethanolanlage seit Februar 2014 stillgelegt, “soll aber wieder angefahren werden”, wie es heißt.Die Umsatz- und Ergebnisbeiträge dieser Beteiligungen werden von Südzucker nicht veröffentlicht, doch liege das Exposure im einstelligen Prozentbereich. Für die im Mai 2011 eingegangene Beteiligung von 25 % minus einer Aktie am britischen Handelshaus ED & F Man, die sich Südzucker seinerzeit rund 255 Mill. Dollar kosten ließ, gibt sich das MDax-Unternehmen relativ entspannt, da der weltweite Zuckerhandel – hier ist ED & F Man die Nummer 2 – in Dollar abgewickelt wird. ED & F Man handelt und vermarktet Agrarrohstoffe wie Zucker, Kaffee und Melasse sowie Biokraftstoffe.Die Mannheimer MVV Energie betreibt in Großbritannien zwei ganz neue, im vergangenen Jahr in Betrieb genommene Kraftwerke: eine thermische Abfallverwertungsanlage im südenglischen Plymouth sowie ein Biomasse-Kraftwerk in Ridham südöstlich von London. “Wir werden unsere erfolgreichen Partnerschaften und Projekte auf der Insel fortsetzen. Ihre Fundamente sind verlässliche und belastbare Verträge und eine auf Dauer und Vertrauen angelegte Zusammenarbeit”, hieß es bei der MVV. Enge Bindung in MannheimDer Mannheimer Bilfinger-Konzern hat seit langem eine enge Bindung zu Großbritannien. Das gilt auch für das künftige alleinige Kerngeschäft Industrial Services, das große Unternehmen wie BP zu seinen Kunden zählt. 2015 machte Bilfinger in UK etwa 500 Mill. der insgesamt 3,7 Mrd. Euro Umsatz im Industrieservicegeschäft. Das Geschäft ist lokal aufgestellt, Ein- oder Ausfuhren spielen keine Rolle. Nur bei allgemeinen konjunkturellen Verwerfungen, die die dortigen Kunden treffen, bekäme auch Bilfinger negative Auswirkungen zu spüren.”Das ist eine schlechte Entscheidung für das britische Volk und die EU”, erklärte Stefan Fuchs, Vorstandschef von Fuchs Petrolub. Die generellen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in UK und in der EU bzw. auf die verschiedenen Industrien seien heute noch nicht absehbar, hieß es bei dem Schmierstoffhersteller. Fuchs besitzt ein Werk in Stoke-on-Trent und erlöste in Großbritannien 2015 rund 158 Mill. Euro, was 7 % der Konzernerlöse entspricht. Insgesamt beschäftigt der Mannheimer Autozulieferer in Großbritannien 316 Menschen.Für Opel/Vauxhall ist es wichtig, dass Verhandlungen über die zukünftige Beziehung des Vereinigten Königreichs zur EU zeitnah abgeschlossen werden. Genauso wichtig ist es, dass der Handel während dieses Zeitraums weiter vom freien Verkehr für Waren und Personen profitiert. Die Bedeutung des britischen Marktes für Vauxhall, Opel und GM wird beim Blick auf die Zahlen deutlich: Das Vereinigte Königreich ist der viertgrößte globale Einzelmarkt für GM und sogar der größte in Europa. 2015 wurden rund 311 000 Vauxhall im Vereinigten Königreich verkauft, dies entspricht einem Marktanteil von 10,2 %. Im gleichen Zeitraum wurden auf der Insel rund 150 000 Fahrzeuge (Vauxhall und Opel-Modelle für den Kontinent) produziert.Der Nürnberger Autozulieferer Leoni rechnet nicht mit kurzfristigen “größeren Umwälzungen” des Geschäfts. Die Folgen seien aber schwer abzuschätzen. Fragezeichen gebe es zum Beispiel mit Blick auf Zölle und Steuern. “Maßgeblich ist auch, wie sich das Geschäft unserer Kunden entwickeln wird”, kommentiert der Hersteller von Bordnetzen für Autos den Brexit. Leoni hat drei Standorte in Großbritannien.Lanxess erklärte, derzeit sei noch nicht abzusehen, welche konkreten Auswirkungen die Entscheidung der Briten in makroökonomischer und politischer Hinsicht haben werde. Der Anteil des Umsatzes in Großbritannien lag 2015 bei knapp 200 Mill. Euro. Der Aromenhersteller Symrise erwartet keine direkten Folgen für sein Geschäft, denn die Produktion ist lokal. Das Unternehmen, das 2015 einen Umsatz von 2,6 Mrd. Euro erwirtschaftete, bringt es in Großbritannien auf einen Umsatzanteil von gut 2 %. Beschäftigt werden dort etwa 200 Personen.Gerresheimer erwartet keine signifikanten Auswirkungen aufs Geschäft. Das Unternehmen betreibt über 40 Werke weltweit, aber keines in Großbritannien. Der Hersteller für Glas- und Kunststoffverpackungen für die Pharmaindustrie beliefert zwar auch britische Pharmafirmen, Stand heute werden keine besonderen Auswirkungen erwartet. Pfund-Schwäche belastetDa aus heutiger Sicht mit einer mindestens zweijährigen Verhandlungsphase über ein Austrittsabkommen zu rechnen ist, sieht der Chemiedistributeur Brenntag keine unmittelbaren Auswirkungen auf sein Ergebnis. Mittel- bis langfristige Auswirkungen hingen dagegen vom tatsächlichen Verhandlungsergebnis ab, das sich derzeit nicht abschätzen lasse. “Aus heutiger Sicht erwarten wir aufgrund unseres Geschäftsmodells keine besonderen Auswirkungen/Belastungen und planen keine unmittelbaren Maßnahmen”, heißt es, wenngleich es bei der Konsolidierung zu Translationseffekten aufgrund der Pfund-Schwäche kommen könnte. Das britische Geschäft steht bei Brenntag für etwas mehr als 5 % des Konzernumsatzes, der sich 2015 auf 10,3 Mrd. Euro belief. Brenntag ist im Vereinigten Königreich mit sieben Standorten vertreten. Die dortige Belegschaft zählt 800 Köpfe.