IM INTERVIEW: MARC-RENE TONN, WARBURG RESEARCH

"Damit reduziert sich Unsicherheit"

Analyst: Weitere Entwicklung in den USA hängt stärker an neuen Modellen als an der neuen Regierung

"Damit reduziert sich Unsicherheit"

Die Ankündigung des VW-Konzerns eines sich anbahnenden Vergleichs mit dem US-Justizministerium zur Beilegung strafrechtlicher Untersuchungen hat die VW-Aktie gestern in der Spitze um 4,2 % auf 152,15 Euro steigen lassen. Gut 10 Euro fehlen noch bis zum Kursniveau vor Bekanntwerden der Abgasmanipulationen bei Dieselfahrzeugen. Im Interview schätzt Marc-René Tonn, Autoanalyst und seit 2004 bei Warburg Research, ein, wie weit Volkswagen mit der Bewältigung der Krise gekommen ist.- Herr Tonn, Volkswagen steuert im Zuge der Dieselabgasaffäre in den USA auf Strafzahlungen von 4,3 Mrd. Dollar zu. Wie ist der angekündigte Vergleich mit dem US-Justizministerium zu bewerten?Die Höhe der Strafzahlungen liegt leicht über den zuletzt in den Medien diskutierten Werten von mehr als 2 Mrd. Dollar. Im Vordergrund steht aber, dass Volkswagen mit der Einigung einen weiteren wichtigen Schritt in der rechtlichen Aufarbeitung der Affäre abschließen kann. Damit reduziert sich die Unsicherheit weiter. Allerdings haben Aktionäre, Anleihegläubiger und Kunden aus anderen Regionen noch Ansprüche auf Kompensationen angemeldet.- Warum ist es für Volkswagen wichtig, den Vergleich noch vor dem Antritt des neuen US-Präsidenten Trump zu erreichen?Ein Vergleich vor dem Übergang der Präsidentschaft in den USA dürfte vor allem eine Einigung beschleunigen. Personelle Wechsel bei den US-Behörden hätten zu Verzögerungen führen können. Ob die kolportierte Strafzahlung von 4,3 Mrd. Dollar höher oder niedriger ausgefallen wäre, ist dagegen reine Spekulation.- Wird es unter der neuen US-Administration für VW schwerer werden, wie geplant in den nächsten Jahren mit der Kernmarke aus der Nische zu kommen und bis 2020 profitabel zu werden?Unseres Erachtens wird die weitere Entwicklung von VW in den USA stärker von den künftigen Modelleinführungen, deren Akzeptanz bei den Kunden sowie den möglichen Imagefolgen der Dieselaffäre abhängen als von der Regierung. Mögliche Änderungen der Nafta-Freihandelszone könnten VW allerdings mit seinem starken Produktionsstandbein in Mexiko treffen.- Wie schwer wiegt das Risiko durch Schadenersatzklagen von Aktionären und Anleihegläubigern wegen einer möglichen Verletzung kapitalmarktrechtlicher Publizitätspflichten im Zusammenhang mit den Abgasmanipulationen?Nach unserer Kenntnis belaufen sich die angemeldeten Schadenersatzansprüche von Aktionären und Anleihegläubigern auf einen hohen einstelligen Milliarden-Euro-Betrag. VW weist die Ansprüche als unbegründet zurück. Die Risiken lassen sich hier mutmaßlich besser abschätzen, wenn mehr Klarheit darüber besteht, wer bei VW wann was gewusst hat und welche Schlüsse daraus gegebenenfalls hätten gezogen werden sollen.- Welche finanziellen Belastungen sehen Sie in diesem Zusammenhang auf Volkswagen zukommen?Wir haben in unseren Bewertungsansätzen direkte finanzielle Belastungen von 20,1 Mrd. Euro inkludiert. Nach der angekündigten Erhöhung der Rückstellungen im Zuge der Einigung mit dem US-Justizministerium dürfte diese Summe nahezu erreicht sein.- Wie realistisch ist es, dass Volkswagen nicht nur in Nordamerika, sondern auch in Europa und anderen Teilen der Welt Kompensationszahlungen an Kunden leisten muss? Mit welchen Belastungen rechnen Sie?Das größte Risiko bezüglich der schieren Anzahl der Fahrzeuge liegt sicher in Europa. Die Rechtsprechung der Gerichte bezüglich Schadenersatzansprüchen von Kunden gegenüber Fahrzeughändlern und VW ist bislang uneinheitlich. Wir haben in unseren Schätzungen bislang keine signifikanten Schadenersatzzahlungen für Europa inkludiert. Diese Einschätzung überprüfen wir regelmäßig.- Wie groß ist jetzt die Planungssicherheit für Volkswagen? Mit welchen Gesamtbelastungen durch die Abgasaffäre ist zu rechnen?Wir rechnen wie gesagt mit direkten finanziellen Belastungen von 20,1 Mrd. Euro. Diese Summe dürfte mit der Einigung mit dem US-Justizministerium und unter Berücksichtigung der bereits getroffenen Vereinbarungen mit US-amerikanischen und kanadischen Kunden und Händlern erschöpft sein. Finale Planungssicherheit wird es für VW vermutlich erst geben, wenn die Klagen von Aktionären und Anleihegläubigern sowie Kunden vor allem aus Europa abgeschlossen sind.- Mit 10,3 Millionen Fahrzeugen hat der VW-Konzern 2016 mehr ausgeliefert als Toyota. Wie schätzen Sie den Absatzerfolg vor dem Hintergrund der Abgasaffäre ein?Getragen wurde der Absatzerfolg vor allem von der sehr starken Entwicklung in China, wo die Dieselthematik keine prominente Rolle einnimmt. Der Absatz der Kernmarke VW Pkw außerhalb Chinas ist hingegen um gut 6 % gefallen. Dabei spielte zwar auch die Schwäche in einigen Märkten wie Brasilien und Russland sowie der Verkaufsstopp von Diesel-Pkw in den USA eine Rolle, VW hat aber auch in Europa Marktanteile eingebüßt. Mit anderen Worten, das globale Bild über alle Marken gibt die Situation nicht vollständig wieder.- Wie beurteilen Sie die Entwicklung des freien Cash-flow (FCF) von VW zur Bewältigung der finanziellen Lasten?Im vergangenen Jahr erzielte VW einen um Akquisitionen bereinigten FCF im Autogeschäft von 5,6 Mrd. Euro, was in etwa dem Niveau der Vorjahre entsprach. Der FCF wurde allerdings mit 4,5 Mrd. Euro von Dividendeneinkünften der chinesischen JVs gespeist. Aus dem operativen Geschäft war der FCF also nicht zufriedenstellend. Wie in den Vorjahren machte sich hier die hohe Investitionstätigkeit negativ bemerkbar, die die Abschreibungen um durchschnittlich 4 Mrd. Euro pro Jahr übertraf.- Die VW-Aktie hat in den vergangenen zwölf Monaten um mehr als 30 % zugelegt. Das Kursniveau von 162,40 Euro unmittelbar vor Bekanntwerden der Affäre scheint bald in Sichtweite. Wird diese Marke 2017 wieder erreicht? Wie attraktiv ist die Aktie?Seit Bekanntwerden der Affäre ist die Marktkapitalisierung von VW um circa 6 Mrd. Euro gesunken, wobei sich Strafen und Schadenersatzzahlungen auf gut 20 Mrd. Euro summieren. Im gleichen Zeitraum ist die Marktkapitalisierung von BMW um knapp 3 Mrd. Euro gestiegen, die von Daimler liegt nahezu exakt auf dem Niveau vom 18. September 2015. Folglich ist unserer Auffassung nach bereits einiges an Fantasie bezüglich künftiger Restrukturierungserfolge bei VW im Kurs eskomptiert. Wir bewerten die Aktie daher momentan mit einem Halten-Rating.—-Die Fragen stellte Carsten Steevens.