Delisting hebelt Aktionärsrechte aus
Der Fall Rocket Internet präsentiert sich als erhellendes Zusammenspiel von Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht. Es geht zunächst um das Delisting, das der Vorstand am 1.9.2020 nach länger umlaufenden Gerüchten der Mühsal mit den Börsenpflichten bekannt gab. Im Zusammenhang mit dem Delisting waren dann durch eine Hauptversammlung am 24.9.2020 Beschlüsse über den Rückkauf und die Einziehung von Aktien zu fassen. Den von Aktionären und ihren Vertretern intensiv vorgetragenen Protesten wurde vom Unternehmen bzw. dessen Anwälten widersprochen, die unter anderem argumentierten, dass ein Delisting die Aktionärsrechte nicht betreffe, weil ja nur die Handelbarkeit der Aktien eingeschränkt würde.Dieser Argumentation ist nicht zu folgen, da die Rocket Internet SE bzw. die Samwer-Brüder elementare Aktionärsrechte in gesammelter Weise verletzten. Die Gedankenführung der Anwaltsseite ist formaljuristisch auf die relevanten Einzelregelungen zugeschnitten. Im Fall Rocket Internet fällt aber eine Bewertung durch eine Aneinanderreihung von Einzelfallbetrachtungen fehlerhaft aus. Der durch Interessenkonflikte und Partikularinteressen der Samwer-Brüder geprägte Gesamt-Sachverhalt führt zu einem rechtswidrigen Ergebnis. Im Einzelnen:1. Zwar wurde das für ein Delisting gemäß § 39 Börsengesetz verpflichtende Erwerbsangebot von der Gesellschaft allen Aktionären vorgelegt. Die größten Aktionäre sind aber mit 49,64 % die von den Samwer-Brüdern gehaltene Global Founders GmbH bzw. der Vorstandsvorsitzende Oliver Samwer, die sich zur Nichtannahme des Erwerbsangebots verpflichtet haben. Ihr prozentualer Anteil an der Gesellschaft steigt nach dem bisher erfolgten Rückkauf von 27,6 Millionen Aktien durch die Gesellschaft mit deren anschließendem Einzug entsprechend. Da laut Mitteilung der Gesellschaft ca. 40 % der Minderheitsaktionäre das Erwerbsangebot angenommen haben, ist die Beteiligung der Großaktionäre Samwer auf fast 63 % des jetzt reduzierten Grundkapitals gestiegen. Weil der Preis des verpflichtenden Kaufangebots aber nur den durchschnittlichen Sechsmonatsbörsenkurs von 18,57 Euro betrug und damit um 12 bis 17 Euro unter den von Bewertungsexperten festgestellten Werten lag, wuchs der Wert der Samwer-Beteiligung ohne deren Zutun um mindestens 200 Mill. Euro.2. Wiewohl die Aktionäre das Pflichtangebot ablehnen konnten, stellt die durch das Delisting dauerhaft eingeschränkte Handelbarkeit der Aktie einen wesentlichen Negativfaktor dar, der sowohl die auf eine Börsennotierung ihrer Anlagen verpflichteten institutionellen Investoren als auch Privatanleger einschlägig belastet. Empirische Studien zeigen, dass schon die Ankündigung eines Delistings angesichts der drohenden Beschränkung der Verkehrsfähigkeit regelmäßig zu Kursverlusten führt. Neben der beschränkten Handelbarkeit wird der Wert der Aktienbeteiligung durch erheblich eingeschränkte Publizitätspflichten (keine Zwischenberichte, keine Veröffentlichung von Insidertransaktionen, Nichtanwendung der Governance-Kodex-Vorgaben) zusätzlich gemindert.Unabhängig davon, ob hier sogar ein Eingriff in Artikel 14 Grundgesetz vorliegt, stellen diese Beeinträchtigungen eine erhebliche, durch die Dominanz der Samwer-Brüder herbeigeführte, dauerhafte Wertminderung des Aktionärsinvestments dar. Die durch die gesetzliche Neuregelung 2015 normierte Festlegung auf den Sechsmonatsdurchschnittspreis für reguläre Delisting-Fälle kann dem gebotenen Aktionärsschutz im so besonders gelagerten Fall Rocket Internet nicht genügen, da es sich hiermit um eine faktische Enteignung gegen eine den tatsächlichen Unternehmenswert weit (um ca. ein Drittel) unterschreitende Gegenleistung handelt.De lege ferenda geboten wäre folglich, nicht nur für solche Fälle das Mindestangebot bei einem derartig strukturierten Delisting wie beim Squeeze-out mit der Überprüfungsmöglichkeit des Spruchverfahrens zu verbinden. Ansonsten würde durch die interessengeleitete Wahl eines zu einem möglichst geringen Sechsmonatsdurchschnittspreis führenden Zeitraums eine De-facto-Enteignung der Minderheitsaktionäre durch die Gesellschaftsorgane dominierenden Großaktionäre toleriert. Damit würden diese auch ihre gesellschaftsrechtliche Treuepflicht durch Verschaffung von Sondervorteilen für sich gemäß § 243 Aktiengesetz verletzen.3. Schließlich ist bei der Gesamtgestaltung der Transaktion auch die Frage des Marktmissbrauchs zu verfolgen: Zahlreiche Indizien lassen den Schluss zu, dass der Rückzug von der Börse von den Samwer-Brüdern schon länger geplant war und schon angesichts der komplexen Vorbereitungsarbeiten für die Transaktion zumindest früher als erst am 1.9.2020 (Tag der Einladung zur außerordentlichen Hauptversammlung) per Ad-hoc-Mitteilung hätte gemeldet werden müssen. Bei dermaßen “gestreckten” Vorgängen ist für jeden Zwischenschritt zu prüfen, ob die erreichte “Verdichtung” bereits eine Insiderinformation darstellt. Im Fall Rocket Internet ist dementsprechend nicht erst die finale Entscheidung, sondern sind bereits die sicher wochenlangen Vorbereitungsmaßnahmen als kursrelevante Insiderinformationen mit Veröffentlichungspflicht gemäß Artikel 7 Absatz 2 Marktmissbrauchsverordnung (MAR) zu qualifizieren. Gemäß § 39 Absatz 3 Satz 3 Börsengesetz wäre der Bieter dann zur Zahlung des Unterschiedsbetrags zwischen der im Angebot genannten Gegenleistung und der Gegenleistung verpflichtet, die einer sachgerechten Bewertung des Emittenten entspricht.Abschließend bleibt festzuhalten, dass der anfangs erwähnte Sachvortrag, wonach der Aktionär ohne Weiteres in der Gesellschaft verbleiben könne, angesichts der vorstehenden Ausführungen wohl eher der Fürstenberg’schen Denke zuzuordnen ist. Dass dem Anleger eine so durchsichtige Benachteiligung zugemutet wird, ist schon aufgrund der deutlichen Notwendigkeit des Aktienengagements breiter Bevölkerungsschichten ein weiterer Rückschlag nach dem Wirecard-Debakel. Christian Strenger, Akad. Direktor des Governance Centers der HHL Leipzig sowie Gründungsmitglied der DCGK-Kommission und Julia Redenius-Hövermann, Professorin für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht an der Frankfurt School of Finance