Der ganz spezielle Reiz der Bruttomarge

In der Kennziffer können sich Kämpfe und Herausforderungen abbilden - Beispiel Siemens

Der ganz spezielle Reiz der Bruttomarge

Von Michael Flämig, MünchenBruttomarge? Klingt nicht sexy – selbst bekennende Zahlenfetischisten halten es lieber mit dem Gewinn oder wenigsten mit dem Umsatz. Die Errechnung der Bruttomarge scheint auch wirklich ohne Esprit zu sein: Da werden vom Umsatz die Umsatzkosten wie etwa Material abgezogen, und der Rest wird in Relation zu den Erlösen gesetzt. Umso weniger für Material & Co. ausgegeben wird, umso mehr bleibt übrig, desto höher ist die Bruttomarge und damit die Basis-Profitabilität. Langweilig, eigentlich. Am Schluss ging LöscherWirklich? Natürlich nicht. Denn je höher die Bruttomarge ist, desto mehr Geld kann ein Unternehmen für Forschung ausgeben, in den Vertrieb stecken oder den Aktionären auszahlen. Die Bruttomarge verleiht Kraft im Ringen mit der Konkurrenz. Mehr noch: Das Beispiel 6 beweist, dass die Bedeutung des Wertes weit über die ökonomische Sphäre hinausreicht. Denn in der Kennziffer Bruttomarge kristallisieren sich die vergangenen Kämpfe im Management ebenso wie die aktuellen Herausforderungen für Vorstandschef Joe Kaeser. Wer die Interpretationshoheit über diese Kennziffer hat, der kann strategische und personelle Entscheidungen zumindest teilweise scheinbar unabweisbar begründen. Wie das funktioniert? In den vergangenen eineinhalb Jahren zeichnete so mache Präsentation aus der Investor-Relations-Abteilung die Margenentwicklung seit dem Geschäftsjahr 2010/2011 auf. Das Signal: Wir werden schlechter und schlechter. Von 30,1 % sackte die berichtete Marge innerhalb von zwölf Monaten auf 28,4 % ab (siehe Grafik). Die denkbare Interpretation: So geht es nicht weiter, auch an der Unternehmensspitze nicht.Tatsächlich ist Peter Löscher mittlerweile – zahlreiche Faktoren haben eine Rolle gespielt – nicht mehr Konzernchef. Wer allerdings den Blick weitet, der bemerkt: Die Bruttomarge 2010/11 war in der Siemens-Historie ein Ausreißer (siehe Grafik). Mehr noch: Der Wert über 30 % resultierte in jenem Geschäftsjahr ausschließlich aus den Ergebnissen im ersten und zweiten Quartal. Waren diese besonders guten Margen Nachholeffekte der gerade beendeten Wirtschaftskrise? Oder doch ein strukturell erreichbares Niveau?Auch die aktuellen Diskussionen über die Bruttomarge lassen aufhorchen. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Kaeser das Thema für zentral hält, die breite Öffentlichkeit aber sich überhaupt nicht dafür interessiert. Dies steht symbolhaft für andere Botschaften, die der neue Siemens-Chef momentan bereithält. Der Konzern soll Dinge selbst in Ordnung bringen, sich auf seine Fähigkeiten konzentrieren, näher am Markt agieren, sein Expertenwissen bündeln, sagt Kaeser. Na ja, so das müde Echo außerhalb des Konzerns. Dann folgt die Frage: Aber wo bleibt denn die neue Strategie?Bei Analysten stößt der Ex-Finanzvorstand naturgemäß auf mehr Resonanz bei derartigen Vorstößen. Kurz vor seiner Amtsübergabe im August reagierte Kaeser auf eine Frage von Redburn-Partners-Analyst James Moore zu den fallenden Margen mit dem Satz: “Ich möchte wirklich verstehen, was die Ursachen hierfür sind, und wir werden diese Ursachen abstellen, weil es wichtig ist.”Die Reaktion aus der Analystenschar auf diesen Satz steht prototypisch für die Weise, wie Kaesers Aussagen nach seiner Startphase zunehmend wahrgenommen werden. “Eine überraschende Antwort”, kommentierte J.P.-Morgan-Analyst Andreas Willi. Warum? Schließlich habe der Prozess des Margenrückgangs schon vor sechs Quartalen begonnen. Kurz: Der Druck wird wachsen, dass das Management nicht nur den Finger in die Wunde legt, sondern sie schließt. Keine leichte Aufgabe, wenn man berücksichtigt, dass konzernintern vielerlei umstritten ist – sogar die Frage, ob die Bruttomarge überhaupt eine Wunde darstellt. Innovation oder Kosten?Der Vorstandschef zumindest hat mittlerweile seine Analyse beendet. Die sinkende Bruttomarge fasst er in der Herbst-Ausgabe der Konzernzeitschrift “Pictures of the Future” in das Bild: “Wir erhalten ein geringeres Premium für unsere Produkte.” Dafür macht der Siemens-Chef die Forschung mitverantwortlich. “Hat unsere Innovationskraft nachgelassen?”, lautet seine Frage. Er fordert eine Exzellenzkultur in Innovations- und Fertigungsprozessen ein. Auch diese Interpretation hat Gestaltungsmacht, legt sie doch nahe, dass die effektivere Umsetzung von Erfindungen das Problem löse und dass dies natürlich Zeit brauche. So mancher Analyst reagiert mit einem vernehmlichen Grummeln. Siemens wolle nur nicht an die zu hohen Kosten ran, so die Replik. Positive BotschaftWie dem auch sei: Das Studium der Bruttomarge hält eine eindeutig positive Botschaft bereit. Denn Siemens wird durch den laufenden Konzernumbau seit zwei Jahren strukturell profitabler. Beispielsweise wurde im Geschäftsjahr 2009/2010 nur eine Bruttomarge von 28,5 % erreicht. In der Aufstellung des Folgejahres allerdings – also durch das Abstoßen margenschwächerer Einheiten – hätte die Marge schon im Geschäftsjahr 2010/2011 genau 29 % betragen, ist dem Geschäftsbericht des Folgejahres zu entnehmen. Ein ähnliches Bild zeigt sich in der darauffolgenden Periode: Von 30,1 % stieg die Marge auf 30,3 %.