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Die Krux der Unterbewertung von Siemens

Von Michael Flämig, München Börsen-Zeitung, 22.9.2020 Die Siemens AG beendet ihre Konglomeratsgeschichte mit der Erstnotiz der Energy-Tochter Anfang nächster Woche. So zumindest hofft es das Management. Fokussierte Unternehmen seien im Vorteil,...

Die Krux der Unterbewertung von Siemens

Von Michael Flämig, MünchenDie Siemens AG beendet ihre Konglomeratsgeschichte mit der Erstnotiz der Energy-Tochter Anfang nächster Woche. So zumindest hofft es das Management. Fokussierte Unternehmen seien im Vorteil, erklärte Vorstandschef Joe Kaeser auf der außerordentlichen Hauptversammlung im Juli: “Konglomerate können vieles gut, aber nur weniges, was künftig wichtig ist, wirklich sehr gut.” Damit möchte Kaeser nicht nur Siemens fitmachen, sondern auch einen Schlusspunkt hinter die Geschichte des Konglomeratsabschlags setzen. Finanzvorstand Ralf Thomas strich daher kürzlich im Interview der Börsen-Zeitung heraus, dass nun jeder selbst bestimmen könne, wie er das Kapital allokiere: “Dies könnte dazu beitragen, einen etwaigen Konglomeratsabschlag zu verringern.”Eine Neubewertung von Siemens und daher ein höherer Aktienkurs wären nur logisch. Die Theorie: Konglomerate sind undurchsichtig und entscheidungsschwach, daher setzt der Kapitalmarkt einen Discount auf den Unternehmenswert an. Dieser berücksichtigt auch, dass manche Aktionäre Konglomerate meiden, weil sie nicht zielgerichtet genug in bestimmte Branchen investieren können. Ein Abschlag lässt sich in Europa und Japan empirisch nachweisen. In den USA seien Konglomerate dagegen mit einem Aufschlag gehandelt worden, stellte Kepler-Cheuvreux-Analyst William Mackie Ende 2018 fest. Die Research-Abteilungen der Banken setzten den Abschlag für Siemens in den vergangenen Jahren trotzdem meist in einer Bandbreite zwischen 10 % und 20 % an.Das Problem: Die Unterbewertung hätte nach Meinung von Analysten längst schrumpfen müssen. Denn der Konzern hat seine Struktur in mehreren Schüben vereinfacht. Beispielsweise flogen Halbleiter, Automobilzuliefergeschäft, LED & Co., Telekommunikation und Konsumartikel aus dem Portfolio (siehe Grafik “Abschied vom Konglomerat”). Doch dies verpuffte. So wunderte sich J.-P.-Morgan-Analyst Andreas Willi im Oktober 2016, der Siemens-Kurs notiere trotz einer besseren Entwicklung als bei den europäischen und globalen Konkurrenten mit einem Abschlag. Sein UBS-Kollege Markus Mittermaier stellte im Januar 2017 fest: “Siemens wird gehandelt, als ob es ein komplexes und schwer zu managendes Konglomerat ist.” Abschlag steigt immer weiterSchlimmer noch: Seit diesen Urteilen ist die Unterbewertung größer geworden, obwohl inzwischen Medizintechnik und Windkraftanlagen an der Börse notiert sind. Während der Discount vor vier Jahren 25 % betrug, hat J.P. Morgan im Juli dieses Jahres 35 % ermittelt (siehe Grafik “Hoher Abschlag”). Die Deutsche Bank kam am 10. September auf den gleichen Wert, UBS im Mai sogar auf 45 %: “Der Abschlag hat sich in den vergangenen Jahren erhöht. Dies ist nicht vereinbar mit unserer Ansicht, dass Siemens auf einer Reise der Konglomeratsauflösung ist.”Dies zeigt: Die Auflösung des Konglomerats führt nicht zwangsläufig zu einer relativ gesehen besseren Bewertung. Zudem greift die Erklärung, der Kurs leide nur technisch an einem Konglomeratsmalus, zu kurz – schließlich ist die Unterbewertung größer als der Abschlag. “Zyniker könnten argumentieren, dass Siemens in den vergangenen Jahrzehnten meistens ,billig` war”, konstatierte Commerzbank-Analyst Ingo-Martin Schachel vor Jahresfrist. UBS-Experte Mittermaier nennt drei Gründe für die kontinuierliche Unterbewertung: volatiles Telekommunikations- und Techgeschäft (1998 bis Mitte 2006), Schmiergeldskandal (bis Anfang 2009) und hohe Belastungen im Projektgeschäft (bis Ende 2016).Und seitdem? Es gibt allerlei Erklärungen, die meist auf niedrige Margen zielen. Die Palette reicht von dem Crash des Gasturbinenmarktes über den Preissturz im Windkraftgeschäft bis zu einer als sehr hoch eingestuften Bewertung der Vergleichsunternehmen Rockwell & Co. Das Aufholpotenzial für die künftige Siemens AG ist gigantisch. Morgan Stanley zufolge wurde das Softwaregeschäft zeitweise 60 % niedriger als die vergleichbare Firma Dassault Systèmes gehandelt (Studie vom 6. August).Ist die Siemens-Energy-Notierung wirklich das Ende der Geschichte vom Konglomeratsabschlag? Ben Uglow von Morgan Stanley warnt, dass die bessere Transparenz auch vor Augen führt, dass die Performance der Sparte Smart Infrastructure unter jener von Schneider und ABB liegt. Sein Analystenkollege Gael de-Bray, der im Namen der Deutschen Bank mittlerweile eifrig die Trommel rührt für Siemens, stellte im Mai 2019 mit Blick auf die Verselbständigung des PG-Energiegeschäfts lapidar fest: “Auch nach dem Spin-off von PG wird Siemens eine Konglomerats-/Holdingstruktur behalten.” Die Aktivitäten reichten von Medizintechnik über Fabrikautomation und Gebäudetechnik bis hin zu Elektrifizierungslösungen.Das Ende der Geschichte vom Konglomeratsabschlag könnte also zu einer endlosen Geschichte werden. Wichtiger erscheint daher, dass der Vorstand die sonstigen Faktoren für die Unterbewertung bekämpft.