IM INTERVIEW: ULRICH HOCKER, DEUTSCHE SCHUTZVEREINIGUNG FÜR WERTPAPIERBESITZ

"Eine extreme Ausnahmesituation"

Aktionärsschützer unterstützt Wahl von Finanzvorstand Pötsch zum Aufsichtsratsvorsitzenden von VW

"Eine extreme Ausnahmesituation"

– Herr Hocker, im Skandal um Manipulationen von Emissionswerten bei Dieselfahrzeugen hat Volkswagen Rückstellungen von 6,5 Mrd. Euro gebildet. Mit welchem finanziellen Gesamtschaden rechnen Sie?Für die Abdeckung des Gesamtschadens, der auf den Konzern insgesamt zukommt, wird die zurückgestellte Summe aller Voraussicht nach nicht ausreichen. Über die mögliche Höhe des Gesamtschadens lässt sich auf der aktuellen Informationsbasis keine wirklich seriöse Schätzung abgeben.- Wie schwer wiegt der Imageschaden?Erste Untersuchungen zeigen bereits, dass die Marke Volkswagen unter dem Skandal deutlich gelitten hat. Wie hoch der Imageschaden am Ende tatsächlich sein wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie VW in den kommenden Wochen und Monaten mit dem Skandal umgeht. Das Unternehmen muss aktiv an der Aufklärung mitarbeiten, einen Kulturwandel einleiten und dies auch entsprechend nach außen kommunizieren. Nur so lässt sich verlorenes Vertrauen – bei Kunden wie bei Investoren – zurückgewinnen.- Wie beurteilen Sie die finanziellen Möglichkeiten des Konzerns, die Folgen des Skandals zu verkraften?Ich gehe davon aus, dass ein Konzern wie Volkswagen die Folgen finanziell verkraften kann – auch wenn das durchaus schmerzhaft werden dürfte. Entscheidend wird sicher sein, dass das Rating von Volkswagen nicht zu sehr leidet.- Volkswagen verspricht Aufklärung. Inwieweit wird diese größte Krise der Firmengeschichte den Konzern verändern?Hier geht es jetzt in erster Linie darum, dass schnellstmöglich Transparenz geschaffen wird. Klar ist aber auch, dass Volkswagen nun vor gewaltigen Veränderungen steht. Nach Abschluss dieses Transformationsprozesses wird der Konzern ein anderer sein müssen. Die notwendigen Anpassungen werden tief in die Unternehmensstruktur eingreifen.- Volkswagen ist in der Ära Winterkorn seit 2007 stark gewachsen. Moniert wird, der Weltkonzern VW werde nach wie vor wie ein mittelständisches Unternehmen geführt. Was muss sich ändern?Die extrem auf die Wolfsburger Zentrale ausgerichtete Entscheidungsstruktur des Konzerns wird kaum zu halten sein. Hier wird es zu einer Dezentralisierung kommen müssen, die dazu führt, dass Entscheidungen näher an den Märkten getroffen werden.- Wie beurteilen Sie den bisherigen Umgang des Konzerns mit dem Abgasskandal?Im Moment ist es aus meiner Sicht noch zu früh, die Aktivitäten des Konzerns abschließend zu beurteilen. Da werden wir in einigen Wochen sicher deutlich mehr wissen. Für den weiteren Umgang gilt im Zweifel: Qualität geht vor Schnelligkeit.- Mit Matthias Müller ist nun ein Mann Vorstandsvorsitzender, der seit rund vier Jahrzehnten für den Konzern arbeitet. Das spricht für eine große Detailkenntnis, ein Neuanfang ist die Berufung des bisherigen Porsche-Chefs nicht. Wäre ein klarer personeller Schnitt nicht besser?Ein Konzern wie Volkswagen ist auf eine Führungsebene angewiesen, die nicht nur über sehr viel Branchen-Know-how verfügt. Sie muss auch das Unternehmen und seine Eigenarten kennen. Dies gilt natürlich ganz besonders in einer derart krisenhaften Zeit. Ahnungslosigkeit an der Spitze kann sich ein Konzern wie Volkswagen schlicht nicht leisten. Mit Herrn Müller kommt nun jemand, der VW und die Branche sehr gut kennt und aufgrund seiner langen Zeit, die er bereits bei Porsche ist, offenbar unverdächtig ist, in den Skandal verwickelt zu sein.- Martin Winterkorn ist als Vorstandschef zurückgetreten. Wie ist der Vorschlag des Aufsichtsratspräsidiums zu bewerten, den langjährigen Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch zum Aufsichtsratsvorsitzenden zu wählen? Spricht aus Ihrer Sicht mehr dafür oder dagegen, dass Herr Pötsch den Posten übernimmt?Es spricht mehr dafür als dagegen. Es geht hier darum, schnellstmöglich wieder handlungsfähig zu werden. VW hat weder Zeit, jetzt noch monatelang nach einem geeigneten externen Kandidaten zu suchen, noch wäre ein Schnellschuss das Richtige.- Wie stark ist in diesen Skandal das Argument der Gesamtverantwortung des Vorstands?Eine solche Gesamtverantwortung kann nicht dazu führen, dass der Gesamtvorstand zurücktreten muss. Das könnte den Konzern als Ganzes gefährden.- Wie bewerten Sie allgemein den Umgang des VW-Konzerns mit den Regeln guter Unternehmensführung, mit Corporate-Governance-Vorgaben?Die Ernennung von Herrn Pötsch entspricht sicher nicht den Regeln guter Unternehmensführung. Aber hier geht es ja auch um eine extreme Ausnahmesituation, fast schon um eine Art von “übergesetzlichem Notstand”. Es galt pragmatische Lösungen zu finden, welche die Handlungsfähigkeit des Unternehmens schnellstmöglich sichern. Gesetzlich vorgeschrieben ist eigentlich eine zweijährige sogenannte Cooling-off-Periode, bevor ein Vorstandsmitglied in den Aufsichtsrat gewählt werden darf. Einzige Ausnahme: Die Wahl des betreffenden Vorstandes erfolgt auf Vorschlag von Aktionären, die mehr als 25 % der Stimmrechte an der Gesellschaft halten – das ist dann in aller Regel ein Großaktionär. Volkswagen geht nun den Weg über das Amtsgericht, was den Vorteil hat, dass zumindest ein Richter die Ernennung prüft. Wichtig wird allerdings sein, das sich Herr Pötsch auf der nächsten ordentlichen Hauptversammlung dann auch zur Wahl stellt. Betonen möchte ich noch: Ein solcher Weg darf aus Sicht der DSW nur in Extremsituationen beschritten werden.- Der Verdacht steht im Raum, VW habe Anleger und Öffentlichkeit erst mit Verzögerung über den Skandal informiert. Das betrifft auch Herrn Pötsch als Verantwortlichen. Wie bewerten Sie den Umgang von VW mit Investoren?Für eine Beantwortung dieser Frage ist es aktuell noch zu früh. Hier werden sowohl die Ermittlungen der BaFin als auch die der US-Justiz für deutlich mehr Transparenz sorgen. Mich würde allerdings wundern, wenn der VW-Konzern eine so wichtige Frage, wie die nach dem Zeitpunkt einer solchen Ad-hoc-Meldung, ohne rechtliche Beratung einfach so aus der Hüfte geschossen hat.- Was muss passieren, dass sich ein solcher Skandal bei Volkswagen nicht wiederholt?Es steht eindeutig ein Kulturwandel an. Es darf nicht sein, dass – selbst bei höchstem Druck – zu kriminellen Mitteln gegriffen wird, um Ziele zu erreichen. Einige andere deutsche Konzerne haben diese schmerzhafte und teure Lernkurve ja bereits hinter sich. Volkswagen steht noch ganz am Anfang. Neben dem unternehmensinternen Umgang mit Druck dürften wohl auch die Vergütungssysteme auf den Prüfstand gestellt werden, die ja – je nach Ausgestaltung – oft eine große Versuchung darstellen, zu nicht ganz legalen Mitteln zu greifen, um das eigene Einkommen zu optimieren. Die Bankenbranche kann hiervon ein Lied singen.—-Das Interview führte Carsten Steevens.