„Europäische Basischemie muss sich Rosskur unterziehen“
„Europäische Basischemie muss sich Rosskur unterziehen“
Im Gespräch: Jan Friese und Hubert Schönberger
„Basischemie muss sich Rosskur unterziehen“
Europa in Sandwichposition – Konsolidierung der Wertschöpfungsketten überfällig – Private Equity kommt als Kapitalgeber ins Spiel
Europas Chemieindustrie ist in einer Sandwichposition zwischen den USA und China gefangen. Um die geschwundene Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen, müssen die Überkapazitäten in der Basischemie nach Einschätzung von BCG-Partner Jan Friese beseitigt werden. Finanzinvestoren könnten dabei helfen.
Von Annette Becker, Köln
Die Chemieindustrie steckt weltweit in der Klemme, der Transformationsbedarf ist riesig. Das lässt sich auch am M&A-Geschehen ablesen: Seit 2017 hat sich das Volumen der M&A-Transaktionen um ein Viertel reduziert, wie Boston Consulting Group in einer Branchenstudie schreibt. Die Hauptursache für das im Vergleich mit anderen Branchen deutlich verhaltenere M&A-Geschehen ist, dass Megadeals mit einem Volumen von mehr als 10 Mrd. Dollar in der Chemie so gut wie verschwunden sind.

Ging es früher vor allem um Größe und Skaleneffekte, stehen heute andere Überlegungen im Vordergrund. Transaktionen werden jetzt getätigt, um das Portfolio zu optimieren und/oder sich Zugang zu Technologien und Innovationen zu sichern. „Alle Unternehmen müssen ihre Portfolios transformieren. Aber der Anpassungsbedarf ist in Europa am größten“, konstatiert Jan Friese, Senior Partner bei BCG und Mitautor der Studie. Er spricht von einem „Wendepunkt“, an dem sich die Chemieindustrie weltweit befindet.
Dass Europa von der weltweit fehlende Nachfrage gepaart mit Überkapazitäten besonders betroffen ist, liegt an der Sandwichposition, in der sich die hiesige Branche befindet. Auf der einen Seite stehen die USA, die ihren Markt mit Zöllen und anderen protektionistischen Maßnahmen abschotten. Auf der anderen Seite steht Asien, das seine Warenströme handelspolitisch bedingt von den USA nach Europa umlenkt.
Reihenweise Werksschließungen
China sei in den letzten 20 Jahren für die chemische Industrie der Wachstumsmarkt schlechthin gewesen, sagt Friese und verweist darauf, dass 60 bis 70% des Nachfragewachstums aus der Volksrepublik kamen. Inzwischen herrscht aber auch dort Flaute, gleichzeitig wachsen die Überkapazitäten. In dieser Gemengelage verlieren die europäischen Anbieter angesichts der hohen Energiepreise, des in weiten Teilen veralteten Anlagenparks und des Drucks zur Dekarbonisierung an Wettbewerbsfähigkeit. „Die europäische Basischemie muss sich einer Rosskur unterziehen“, ist Friese überzeugt.
Dass diese Aussage nicht aus der Luft gegriffenen ist, hat 2025 gezeigt. So haben namhafte Global Player in diesem Jahr reihenweise Werksschließungen in Deutschland angekündigt, darunter Dow Chemical und Ineos. Weitere Anlagenschließungen dürften folgen, gibt es doch vor allem in der Petrochemie erhebliche Überkapazitäten. Das wiederum hat aber Folgen für die nachgelagerten Stufen, auf denen wichtige Zwischenprodukte hergestellt werden. Denn auch für diese Firmen wird es sich am Ende wahrscheinlich nicht rechnen, die Rohstoffe aus Asien oder Nahost zu importieren.
Vom Staat orchestriert
Doch die Konsolidierung der restrukturierungsbedürftigen Wertschöpfungsketten bleibt aus. Denn Käufer müssten im Anschluss an den Erwerb zunächst einmal Kapazitäten aus dem Markt nehmen. Das ist zum einen teuer und zum anderen profitierten von der Angebotsverknappung auch die Wettbewerber. Die europäische Stahlindustrie, die sich über viele Jahre vergeblich um die Konsolidierung bemühte, mag in dieser Hinsicht als abschreckendes Beispiel dienen.
Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick nach Asien. „In Japan und Südkorea orchestriert der Staat Partnerschaften, um Überkapazitäten zu konsolidieren und die Rohstoffseite abzusichern“, sagt Hubert Schönberger, Senior Director bei BCG Vantage, der ebenfalls an der Studie „From Megadeals to Focused Transactions“ mitgeschrieben hat. So haben Mitsubishi Chemical, Asahi Kasei und Mitsui Chemicals ihre Ethylengeschäfte in ein Joint Venture eingebracht, um die Kapazitäten zu optimieren und Richtung Klimaneutralität auszurichten.
Wettbewerbsrecht steht im Weg
In Europa stehen solche „Zusammenschlüsse“ aber stets unter strenger wettbewerbsrechtlicher Begutachtung der EU-Kommission. Die hiesige Politik habe noch nicht ganz verinnerlicht, welche Bedeutung die Chemie für den integrierten Wirtschaftsstandort hat. Wenn Teile aus der Wertschöpfungskette herausgelöst würden, komme es zu gefährlichen Abhängigkeiten, warnen die BCG-Berater mit Fingerzeig auf Antibiotika.
Genau an dieser Stelle könnten künftig vermehrt Finanzinvestoren ins Spiel kommen. „Private Equity kann als Kapitalgeber zur Konsolidierung der Wertschöpfungsketten dienen“, glaubt Friese. Diese Käufergruppe blicke neutral auf die Geschäfte und habe wenig Hemmung, alte Zöpfe abzuschneiden. Zudem bringen Finanzinvestoren im Restrukturieren von Geschäften mehr Erfahrung mit. „In Europa“, ist Friese überzeugt, „werden Wertschöpfungsketten entweder konsolidieren oder aus dem Markt ausscheiden.“ Letzteres hat natürlich auch immer eine politische Komponente.
M&A in Wachstumssegmenten
Am Abbau der Überkapazitäten in Europa führt nach Einschätzung von Friese kein Weg vorbei. „In China hat der Staat begonnen, die Solarindustrie zu bereinigen. Die größten chinesischen Polysilizium-Produzenten sollen einen Fonds schaffen, der circa ein Drittel der bestehenden Polysilizium-Kapazität aufkauft und stilllegt. Ähnliche Überlegungen gibt es für die Auto- und Chemieindustrie“, weiß Schönberger.
Dennoch bleibt M&A auch für Chemieunternehmen aus Europa ein Thema, selbst wenn sie zur Portfoliobereinigung zunächst vor allem auf der Verkäuferseite stehen dürften. „Auch europäische Chemieunternehmen werden sich am M&A-Markt blicken lassen – zur geografischen Diversifikation oder zur Verlängerung ihrer Wertschöpfungsketten“, ist Friese überzeugt. Hinzu kommen Technologieakquisitionen, um in Wachstumssegmente wie Batteriechemikalien, Wasserstoffindustrie oder biobasierte Agrarchemikalien vorzustoßen.
