Europas Unternehmen saugen sich mit Kapital voll
cru Frankfurt
Europas Unternehmen saugen sich an den Finanzmärkten mit frischem Eigenkapital und Fremdkapital voll – aus Not, aus Vorsicht und um Chancen zu nutzen. Das Volumen der Kapitalerhöhungen, IPOs und Anleiheemissionen ist in diesem Januar so groß gewesen wie niemals zuvor im Auftaktmonat des Jahres – und zugleich deutlich größer als in den allermeisten Jahren zuvor. Das geht aus Daten hervor, die das Analysehaus Refinitiv für die Börsen-Zeitung zusammengestellt hat.
Die Anleiheemissionen von Staat und Unternehmen in Europa erreichten im Januar einen Wert von 314 Mrd. Dollar, die Emissionserlöse aus Börsengängen kletterten auf 6,6 Mrd. Dollar – und die Kapitalerhöhungen stiegen auf den Rekordwert von rund 47,6 Mrd. Dollar. Zu den größten Kapitalerhöhungen im Januar zählten die des Lieferdienstes Delivery Hero mit 1,5 Mrd. Dollar zur Finanzierung von Übernahmen sowie die des Reisekonzerns Tui mit 690 Mill. Dollar und die des portugiesischen Energiekonzerns EDP mit 650 Mill. Dollar, der mit dem Geld Investitionen in Windräder und Solaranlagen ausbaut.
Auch der Impfstoffhersteller Curevac sicherte sich 450 Mill. Dollar. Darüber hinaus ist nach der 16,4 Mrd. Dollar teuren Übernahme des US-Krebsspezialisten Varian durch Siemens Healthineers, die im ersten Halbjahr unter Dach und Fach gebracht werden soll, laut Finanzvorstand Jochen Schmitz eine zweite Kapitalerhöhung zur Finanzierung des Zukaufs weiter möglich. Hintergrund der Welle von Transaktionen ist die Flut von Liquidität aus staatlichen Hilfsprogrammen und der Nullzinsgeldpolitik der Notenbanken.
Chance wird genutzt
Die Hilfsgelder treiben die Wertpapierpreise trotz Wirtschaftskrise und Pandemie nach oben. Unternehmen nutzen die niedrigen Zinsen und die steigenden Kurse, um Kapital für Expansion oder Restrukturierungen zu besorgen oder um den Aktionärskreis zu erweitern oder zu verändern. Die am Emissionserlös gemessen bisher größten Börsengänge in diesem Jahr in Europa waren der polnische E-Commerce-Lieferdienst Inpost in Amsterdam mit 3,2 Mrd. Euro, der Berliner Online-Gebrauchtwagenhändler Auto1 in Frankfurt mit 1,8 Mrd. Euro und der Schuhhersteller Dr. Martens in London mit 1,5 Mrd. Euro – alle drei getragen von den starken Kursgewinnen an den Aktienmärkten seit März 2020.
Damit spiegeln inzwischen auch die europäischen Kapitalmärkte die Flut von Transaktionen, die in den USA und China schon früher im vergangenen Jahr eingesetzt hat. Weil die Investoren wegen der in den meisten Asset-Klassen geringen Erträge nach Rendite suchen, können sich auch Unternehmen mit schwacher Bonität zu günstigen Konditionen verschulden. Allein in den ersten drei Wochen des Jahres ist das Volumen der neuen Hochzinsanleihen global auf knapp 50 Mrd. Dollar gestiegen – manche davon für Sonderdividenden an die Private-Equity-Eigentümer.
Volle Kassen im Dax
Insgesamt sind die deutschen Dax-Konzerne laut Daten der Unternehmensberatung EY angesichts gut gefüllter Kassen gerüstet für einen möglicherweise schwierigen Jahresbeginn. Der Analyse zufolge verfügten die deutschen Top-Unternehmen Ende des dritten Quartals insgesamt über gut 140 Mrd. Euro an liquiden Mitteln – fast die Hälfte davon wird bei Volkswagen, Daimler und BMW gehortet. Es lagen 5% mehr Liquidität in den Kassen als zur Jahresmitte 2020 und über ein Drittel mehr als ein Jahr zuvor im dritten Quartal 2019. Die Ausstattung mit Liquidität ist also nach wie vor komfortabel. Am stärksten erhöht wurde sie zuletzt bei MTU Aero Engines, am stärksten verringert bei Deutsche Wohnen. Der operative Cash-flow der Dax-Unternehmen war um ein Viertel auf 52 Mrd. Euro gestiegen. Trotzdem wurden die Ausgaben für Forschung und Entwicklung im Schnitt um 4% verringert – vor allem bei MTU Aero Engines, Linde und Daimler. Nur bei Infineon, SAP und Fresenius Medical Care wurden sie erhöht.